Albicocca

Gardasee Riva

Als Gesa am vierten April um kurz vor sieben aufwachte, war es nicht wie sonst. Sonst brauchte sie lang, um wachzuwerden. Sie stellte den Wecker immer viel zu früh, um dann eine Ewigkeit dem Schlaf nachzuhängen. Manchmal dämmerte sie wieder ein zwischen zweimal Weckerklingeln. Das war die Zeit, in der sie Träume hatte, an die sie sich erinnern konnte.

Aber an diesem Morgen war sie munter wie noch nie. Den Wecker stellte sie aus und strampelte sich von der Decke los. Als hätte sie vorher nicht gewusst, was Wachsein überhaupt ist, wunderte sie sich über diesen neuen Zustand. Das Zimmer war wie immer, aber sie sah viel mehr. Sie sah den Stuck an der Decke an. Der Mann hatte gesagt, das Ornament sähe aus wie Kornkreise. Sie hatte gelacht; das war damals. Oft hatte sie nicht gewusst, was sie ihm entgegnen sollte. Sie mochte, wie er dachte, wie er lachte und wie er neben ihr schlief. Und wie sie sich ein bisschen dumm fühlte, wenn sie nicht wusste, was sie ihm sagen sollte. Nun sah sie die Kornkreise selbst und ihr fielen die klügsten Entgegnungen auf seine Bemerkungen ein. Wach, wie sie war, fiel ihr auch ein, wie sie vor der Stille am Telefon Angst bekommen hatte. Weil diese Redepausen wuchsen, während die Gespräche sich verkürzten. Man musste nicht gut rechnen können, um zu begreifen: Sie würden irgendwann gar nichts mehr sagen. Jetzt war das Bett leer neben ihr und schwieg.

Mit dem Mann hatte es sich ein bisschen wie mit diesen Eidechsen verhalten, die sie im Urlaub am Gardasee gesehen hatten. Das Licht der Sonne ließ alles glühen, flirrend verschwommen die Steine der Mauer, wenn Gesa sie näher ansehen wollte, und manchmal saß dort eine Eidechse im Mauerwerk. Kaum hatte Gesa sie entdeckt, war sie fort. Und einen Augenblick später war sie sich nicht mehr sicher, ob sie überhaupt dagewesen war.

In ihrem Wachsein sah Gesa die Eidechsen über die Mauer huschen und fühlte dabei die Sonne, die ihr in Riva die Schultern verbrannt hatte, erinnerte das verwaschene Rosa ihrer Stoffturnschuhe, in denen sie jeden Tag die achtzehnprozentige Steigung zum Ferienhaus hinaufkletterte, fühlte das Öl auf ihren Fingern, die Antipasti aus einem Konservenglas fischten, man könne sie später im See waschen, hatte der Mann gesagt und Gesa hatte ihm nichts entgegenzusetzen gehabt. Es war, als könne sie alles nochmal schmecken: Borlottibohnen und Erdbeereis, Espresso, Vinschgauer, Aprikosensaft aus kleinen Glasfläschchen. Albicocca. Ihr Mund formte das Wort. Albicocca, flüsterte sie. Es hatte ihr damals so gefallen. Wie lang sie es nicht benutzt hatte. Sie saß am Ufer und im Zug zugleich, wanderte durch die Olivenhaine, wischte erschrocken Heuschrecken von der nackten Haut und später, im Ferienhaus, klopfte sie den Dreck von ihren Schuhen. Hielt seine Hand und ließ ihn ihre Füße streicheln, einfach, weil er das so gut konnte, und sie lachten über den deutschen Akzent des Schaffners, als sie auf den Brenner zufuhren.
Gardasee RivaAlles passierte gleichzeitig. Gesa fragte sich, ob diese Erinnerungen nicht viel lebendiger waren als die Wirklichkeit ihr damals vorgekommen war. Zwei Jahre war dieser Urlaub nun her, und es war ihr einziger gewesen, ganz am Anfang. Sie hatten sich ein paar Tage zuvor zum ersten Mal getroffen, wie selbstverständlich nahm er sie mit zu sich nach Hause, stellte keine Fragen und beantwortete keine. Dann hatte er sie gefragt, ob sie mitkommen möchte in seinen Urlaub, er sei zu viel allein, sie willigte ein, schnell noch das Hotelzimmer gegen ein Häuschen am Hang umgebucht, er hatte ihr eine Zugfahrkarte gekauft und gesagt, was sie einpacken sollte. Sechzehn Tage verbrachten sie dort und es fühlte sich an, als hätten sie beide nie etwas anderes gemacht als Antipasti zu essen und Worte wie Carciofo oder Salita auswendig zu lernen, spazieren zu gehen, sich zu berühren, verstohlen, heimlich fast. Einmal zog er sie in einer Gasse an sich, nachts, drückte sie gegen die Wand, stellte sich vor sie und schob seine Hand unter ihren Rock. Ganz leise war sie, als es ihr kam. Geräuschlos. Niemand war mehr wach. Sie kam mit Rotweinlippen und roten Wangen heim, freute sich über ihr wildes Spiegelbild.

Die Leute auf dem Dorf sahen sie mit Argwohn an. Er zwanzig Jahre älter, sie gerade fertig mit dem Abitur; zu viel Zeit, sie, zu viel Geld, er, beide glücklich. Endlich. Und Glück machte Feinde. Das allerdings hatte Gesa erst später bemerkt, als ihre Freundinnen genauso schauten wie die Menschen auf dem Dorf und Gesa daraufhin jedes Interesse an ihnen und ihren zusammengekniffenen Augen verlor.

Gleich neben ihren Zehen huschte eine Eidechse über das Bett und verschwand zwischen zwei Falten im Laken. Sie hob die Decke an, aber das Tier war nicht mehr zu sehen. Sie beugte sich über das Fußende, um unters Bett zu schauen. Auch dort nichts. Etwas verstaubt war’s. Behutsam tastete sie die Matratze ab, nichts, und so stand sie schließlich auf, obwohl es noch viel zu früh war für die Vorlesung. Gesa nahm das Telefon, wählte seine Nummer, ganz von allein ging das.

Gardasee Riva
„Hallo?“
Er klang wie immer. Gesa fragte sich, ob er glücklich sei.
„Albicocca“, sagte sie, legte auf und lächelte. Ihre Stimme war fest und deutlich, keine Morgenstimme, sondern eher eine Mittagsstimme.

Wie gut es sich anfühlte, endlich wach zu sein. Dass er nicht zurückrufen würde, war nicht mehr wichtig. Sie hatte viel vor. Als erstes würde sie Kaffee kochen. Später würde sie zur Uni gehen. Dazwischen würde sie unter dem Bett Staub wischen. Vielleicht saß heute wieder Stephan neben ihr, Stephan mit der schönen Handschrift und den schönen Händen, Stephan, der so fremd wirkte und ein Jahr jünger war als sie. Vielleicht würde er mal vorbeikommen und sie könnten zusammen hier liegen, und sie würde sagen: „Schau mal, der Stuck da oben – der sieht ja aus wie die Kreise im Kornfeld, nachdem ein UFO gelandet ist.“ Und sie würde es sagen, als sei ihr das gerade eingefallen. Mit Staunen in der Stimme. Dann würde er lachen und sich auf der Stelle in sie verlieben, wie er sich noch nie zuvor in jemanden verliebt hatte, so sehr, dass es fast wehtun würde.

Das Telefon klingelte. Die Nummer auf dem Display kannte Gesa genau.

 

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Jana Volkmann: Schwimmhäute (2012)
Mehr von Jana Volkmann:

„Schwimmhäute: 26 Metamorphosen“
Periplaneta Verlag
März 2012
ISBN 978-3940767929
www.jana-volkmann.de

Jana Volkmann

1983 in Kassel geboren. Studierte in Berlin, lebt und schreibt seit 2012 in Wien. Ihr Debüt „Schwimmhäute – 26 Metamorphosen“ erschien mit Lesungs-CD im März 2012 bei Periplaneta periplaneta.com. Lesungen in Wien, Berlin, Leipzig, Hamburg, Fribourg und anderen Städten (siehe z.B. http://www.facebook.com/SchamlosHarmlos). Im Web auf www.jana-volkmann.de

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