Report (23/02/2013)*

I

bagdad_70xUm es vorwegzunehmen: Unsere Gruppe ist gegen den Krieg, und wenn wir das Feuer eröffnen, so haben wir Gründe. In diesem Fall hatten wir gleich neun davon, neun verdammte Gründe, die an einer Straßenecke in Bagdad rumstanden. Standen rum und sahen verdächtig aus. Verdächtig nach Irakern. Nach Irakern, die Ärger machen wollten. Also haben wir unsere Crazyhorses genommen und sind hingeritten, um uns die Sache mal aus der Nähe anzuschauen.

Okay, wir sind hingeflogen, nicht hingeritten, aber wir sind auch keine verdammten Apachen, selbst wenn unsere Maschinen so heißen.

Es sind Hubschrauber, Kampfhubschrauber, wenn Sie’s genau wissen wollen, Typ Hughes-AH 64, ausgestattet mit sechzehn lasergesteuerten AGM-114-Hellfire-Panzerabwehrraketen, diversen Luft-Luft-Lenkwaffen, ein paar Dutzend ungelenkten Luft-Boden-Raketen sowie einer fröhlichen 30mm Kanone mit 1.200 Schuss Munition, ein guter Teil davon extrem panzerbrechend, extrem leicht entzündlich und mit – natürlich extrem abgereichertem – Uran versehen.

Aber wenn wir schon einmal dabei sind, der Typ, der uns gerufen hat, nannte sich Hotel 2/6, und wenn Sie glauben, dass er wie Lawrence von Arabien in irgendeiner verdammten Lobby rumsaß und die Sessel vollgefurzt hat, dann irren Sie sich. Hotel 2/6 saß nämlich zum Zeitpunkt seines Anrufs mitten im verschissenen Bagdad in seinem Humvee und war von irgendwelchen dreckigen Irakern beschossen worden. Also haben wir uns die Koordinaten geben lassen und sind hin, und kaum dass wir da waren, haben sie auch schon auf uns gezielt.

Mit zwei Canon EOS Digitalkameras, na schön, aber sie hatten Teleobjektive aufgesteckt, und sowas sieht von oben nunmal verdächtig aus. Gut, mag sein, dass es Kameramänner waren, aber fest steht, dass sie sich nicht als Journalisten ausgewiesen habe, weder gegenüber Crazyhorse 1/8, noch gegenüber Crazyhorse 1/9. Jaja, ich weiß, sie hatten ihre Akkreditierungen dabei, aber die muss man auch gut sichtbar tragen, wenn zwei verrückte Pferde über einem kreisen. Im Übrigen haben wir später zwischen den Leichen eine AK-47 gefunden, und eine Panzerfaust lag auch in der Gegend. Wir hatten also Gründe.

Also haben wir geschossen, und ja, wir haben auch auf die Helfer gefeuert, die kurz darauf kamen und die irakischen Bastarde mit einem Lieferwagen wegbringen wollten. Aber wir konnten ja nicht wissen, dass es Helfer sind. Sowas sieht man nicht von oben. Und die Typen waren auch nicht als Helfer erkennbar. Ich meine, was würden Sie denn tun, wenn unter Ihnen ein Haufen Leichen rumliegt und plötzlich kommen ein paar Typen in einem Lieferwagen angefahren und fangen an, die einzusammeln? Und wir reden hier nicht von irgendwelchen Leichen, sondern von denen, die man eigenhändig in diesen Status befördert hat. Das ist doch Vernichtung von Beweisen, das ist doch ganz klar! Ich meine, wir sind gegen den Krieg, das ist überhaupt keine Frage, aber wenn wenn irgendjemand anfängt, Beweise zu vernichten, dann hört der Spaß auf. Der einzige Grund, warum wir die Beweisvernichter vernichtet haben, war also die Rettung der Beweise. Das ist nicht nur logisch, das ist auch konsequent. Sicher, zwölf tote Iraker, das ist nicht schön, ganz gewiss gar nicht schön, aber immerhin keine Kinder darunter. Schwerverletzt, ja klar, gewiss, aber wir haben sie in ein Krankenhaus gebracht und später, glaube ich, auch besucht.

Unsere Gruppe ist nämlich nicht nur gegen den Krieg, sondern auch für die Kinder. Weil wir nämlich wissen, was für ein wertvolles Gut Kinder sind. Ich meine, nehmen Sie nur dieses vierjährige Mädchen, das wir an dem Tag gefunden haben. Ihr ganzer Körper war mit kostbaren Einlegearbeiten aus Glas überzogen. Von oben bis unten, Glasintarsien in sämtlichen Formen und Größen.

Ich meine, ich will gar nicht bestreiten, dass wir erst später bemerkt haben, dass das Glas aus der Windschutzscheibe stammte und dass wir es waren, die es ihr mit unseren 30mm Kanonen eingelegt hatten. Aber ich meine, wir sind schließlich auch keine verdammten Kunsthistoriker, und außerdem haben wir bei der Aktion einen unseren Männer verloren.

Der Kerl hat seine Deckung aufgegeben und einen kleinen Jungen aus dem zerschossenen Wagen gezogen. Hatte eigentlich Anweisung aufs Dach zu gehen und die Lage zu sichern. Ich meine, er hatte ja schon das Mädchen aus dem Wagen geholt, und so wie es aussah, gab es keine weiteren Überlebenden. Aber dann hat er diesen Jungen gesehen und gemerkt, dass der gar nicht tot ist, ganz im Gegensatz zu seinem Vater, der so unverantwortlich war, seine Kinder in diese Lage zu bringen. Jedenfalls hat der Junge seine Hand bewegt, was ein Wunder ist, wenn Sie mich fragen, weil sein Kopf völlig zerschossen war, und das mit der Hand kann nur ein Reflex oder sowas gewesen sein, jedenfalls kein Zeichen, dass der Soldat hinkommen und ihn rausholen soll. Aber gut, er hat’s getan, nur muss er sich dann nicht wundern, wenn’s ihm anschließend komisch im Kopf ist. Ich meine, er hätte eigentlich oben auf dem Dach sein sollen, das war sein Befehl, und dann hätte er die ganze Scheiße mit dem Jungen auch nicht mit ansehen müssen, und außerdem auch seine Kameraden geschützt, die da zwischen den ganzen Leichen rummarschiert sind.

Gibt also gar keinen Grund, da irgendjemand anderem die Schuld für das Kopfkino zu geben und ein Drama draus zu machen. Ich meine, wer einen Befehl bekommt und den ignoriert, der braucht hinterher nicht mit einem Trauma zu kommen, der sollte sich lieber hinsetzen, sich den Sand aus der Muschi kratzen und froh sein, dass er nicht vors Kriegsgericht gestellt worden ist.

bagdad_280cIch meine, hey, das da unten ist der Irak, und wenn wir mit unseren Pferden übers Land reiten, dann wird da schon mal bisschen Staub aufgewirbelt. Sie müssen sich das Video ja nur mal anschauen, jetzt, wo Sie’s dürfen, ist alles nur Schrapp – Schrapp – Schrapp, Staub – Staub – Staub, Schrapp – Schrapp – Schrapp … Warum wir das aufgezeichnet haben? Ganz einfach: Weil wir es können. Und weil wir auch gar nicht anders können. Unsere Ingenieure haben nämlich die Kanone mit der Kamera gekoppelt. Target Acquisition and Designation System mit integriertem Fire Control Radar, falls Ihnen das was sagt. Kann mehrere Ziele gleichzeitig erfassen und mit einem Laser markieren. Und dann: Bumm. Und wenn wir ein Ziel nicht getroffen haben, weil es weggerannt ist, muss der Pilot nur seinen Kopf drehen und schon geht der Laser mit. Und dann: Bumm. Und wenn es zu viele Ziele sind: Buddy-Bumm. Können mit dem Laser nämlich auch Ziele für andere Soldaten markieren. Bis zu 75 Stück. Und dann:

Bumm Bumm Bumm Bumm Bumm Bumm Bumm Bumm Bumm Bumm

Bumm Bumm Bumm Bumm Bumm Bumm Bumm Bumm Bumm Bumm

Bumm Bumm Bumm Bumm Bumm Bumm Bumm Bumm Bumm Bumm

Bumm Bumm Bumm Bumm Bumm Bumm Bumm Bumm Bumm Bumm

Bumm Bumm Bumm Bumm Bumm Bumm Bumm Bumm Bumm Bumm

Bumm Bumm Bumm Bumm Bumm Bumm Bumm Bumm Bumm Bumm

Bumm Bumm Bumm Bumm Bumm Bumm Bumm Bumm Bumm Bumm

Bumm Bumm Bumm Bumm Bumm … Aber keine Sorge, wir nutzen das nicht aus. Asymmetrische Kriegsführung ist nichts, was uns interessiert. Ich meine, wenn dem so wäre, dann würden wir das doch allen zeigen, nicht wahr? Dann würden wir ihnen zeigen: Schaut her, wenn ihr euch mit uns anlegt, dann zerschießen wir euch euer Koordinatensystem, dann macht es aus fünfundsiebzig verschiedenen Richtungen Bumm, und dann wisst ihr schon bald nicht mehr, wo euch der Kopf steht – falls ihr überhaupt noch einen habt. Aber genau das tun wir nicht, und selbst wenn wir einmal gezwungen sind, ein wenig, sagen wir asymmetrischer zu werden, so legen wir unsere Aufzeichnungen danach ins Archiv. Wir gehören nämlich nicht zu denen, die ihre Beute erst erlegen und anschließend fein säuberlich nebeneinander aufreihen, damit jeder sie sieht. Oh nein, wir lösen das Problem, das wir zu lösen haben, und gehen dann wieder. Um die Leichen kümmert sich die irakische Polizei. Oder die afghanische. Oder wer immer auch gerade anfängt, ordentliche Police Departments aufzubauen.

Aber das ist nicht der einzige Grund, warum wir nicht wollen, dass unsere Aufzeichnungen veröffentlicht werden. Es geht nämlich nicht nur um die Iraker oder Afghanen oder wer immer da gerade unter uns liegt, nein, es geht auch um unsere Kinder. Zu Hause. In Amerika. An den Fernsehgeräten. Und Computerbildschirmen. Und Smartphones. Und Gott weiß, was sonst noch für Bits und Pods und Pads. Denn genau dort kriegen die’s zu sehen. Unsere Kinder. Zu Hause. In Amerika. Dabei haben wir schon genug von denen hier unten. Im Krieg. An den falschen Positionen. Das wissen wir jetzt. Haben das kontrolliert. Und einen Bericht drüber geschrieben. Und bedauern das auch.

 

II

bagdad_70xxSie wissen, dass ich von diesem Kerl namens Manning rede. Der Name ist kein Geheimnis, auch wenn es noch eine Reihe anderer gibt, die wir wegen ganz ähnlicher … Jedenfalls war dieser Manning Nachrichtenspezialist in unserer Armee und von 2009 bis 2010 fernab der Front in einem klimatisierten Gebäude in der Nähe von Bagdad stationiert.

Sie sehen, ich bin ganz offen zu Ihnen, und deshalb sage ich auch: Der Kerl war ne Muschi. Und zwar die Art von Muschi, die wir da unten nicht brauchen. Was wir dagegen sehr wohl brauchen, sind Nachrichtenspezialisten. Leute, die Informationen auswerten und sie nach Bedrohungen für uns überprüfen. Dafür war dieser Manning vorgesehen, nicht dafür, selbst zu einer Bedrohung zu werden. Aber gut, inzwischen wissen wir, dass die Aufgabe ne Nummer zu groß für ihn war.

Ich meine, der Kerl ist ne Schwuchtel. Das mag noch gehen, wenn er’s für sich behält, aber irgendwann hat er angefangen, sich Breanna zu nennen. Und im Heimaturlaub Frauenkleider getragen. Und ich sage Ihnen, wenn ich eins weiß, dann das: Wer seinen Schwanz verrät, der verrät auch sein Land.

Und genau das hat er dann ja auch getan. Hat unseren kleinen Ausritt in Bagdad kopiert und ne große Sache draus gemacht. Hat gesagt, er hätte’s zum Wohle der Menschheit getan, weil die sonst dem Untergang geweiht wäre, und lauter so Zeug. Ich meine, das muss man sich mal überlegen, eine Schwuchtel, die vom Aussterben redet, dabei sind’s die Schwuchteln, durch die wir aussterben werden.

Und dann noch großspurig erklären, dass die Menschen die Wahrheit erfahren müssten, dabei ist der Kerl noch nicht mal mit seiner eignen Wahrheit klargekommen. Ich meine, der hat einfach nicht begriffen, dass er ne verdammt falsche Muschi in nem verdammt echten Krieg ist. Dieser elende Lehmstecher hat einfach nicht kapiert, dass es dort unten, im Irak, gar keinen Lehm gibt. Dort unten gibt’s nämlich nur Sand und Dreck und Staub. Und dazwischen ein paar Iraker, die an irgendeiner Straßenecke rumstehen und es alles andere als lustig finden, wenn ihnen einer den Arsch heiß macht, wenn Sie verstehen, was ich meine.

Aber gut, jedenfalls hat dieser Manning unser Video kopiert und es einem Archiv geben, das gar kein Archiv ist. Ich meine, die haben noch nicht mal nen Sammelauftrag und veröffentlichen alles, was eine dreckige Hand einer anderen gegeben hat. Und jetzt, jetzt kriegen’s unsere Kinder zu sehen. Zu Hause. In Amerika. Und die sehen dann ihre Daddies bei der Arbeit. Ich meine, die Schweine, die das Video veröffentlicht haben, hätten wenigstens den Ton rausnehmen können, man hört da unten auf dem Boden sowieso keinen schreien, aber dafür unsere Jungs im Helikopter sieben Mal »Fuck« rufen.

Um nicht falsch verstanden zu werden: Unsere Gruppe ist gegen dieses Wort, aber wenn wir es benutzen, so haben wir Gründe. Aber ich will auch gar nichts weiter dazu sagen, nur soviel: Wir werden eine eigene Version des Videos herausbringen, ohne dieses schreckliche Wort, für das wir, wie gesagt, Gründe hatten.

bagdad_280aIch weiß, das ändert nichts an den Bildern, und daran, dass manch einer, der sie sieht, denken mag, wir würden auf unschuldige Zivilisten schießen.  Deshalb nochmal ganz deutlich: Wenn es in dem Video so aussieht, als hätten wir die Waffen und die Irakis nur zwei Kameras, dann täuscht dieser Eindruck. Tatsächlich hatten nämlich die die Waffen und wir die Kameras, an denen zufällig noch unsere Kanonen hingen. Was wir aber, wie gesagt, nicht ändern können, da unsere Ingenieure … Jedenfalls waren und sind wir fest davon überzeugt, dass die Iraker auf dem Boden auf uns gezielt haben. Ob mit einer Kamera oder einer AK-47 ist dabei völlig egal. Fakt ist, dass sie auf uns gezielt haben. Und deshalb – und nur deshalb! – haben wir ihnen die Objektive zerschossen. (Im Übrigen, und so ganz unter uns gefragt: Glauben Sie nicht auch, dass eine Gruppe wie unsere, die sich auf einen Gott beruft, der nach wie vor einem gewissen Bilderverbot unterliegt, nicht auch ein Recht auf ein gewisses Bilderverbot hat?)

Aber gut, wie dem auch sei, jedenfalls haben wir diesen Manning verhaftet und dabei gemerkt, dass er noch mehr kopiert hat. Im Grunde hat er alles kopiert, was wir so hatten. Botschaftsdepeschen, Irak-Protokolle, Afghanistan-Zeug, das volle Programm. Der Kerl hat seine Schichten anscheinend zu nichts anderem genutzt. Sieben Tage die Woche, vierzehn Stunden am Tag, über acht Monate hinweg: Download.

Aber das ist noch lange nicht alles. Dieser Manning hat mit dem, was er getan hat, nämlich nicht nur ein paar Daten, sondern ganz Amerika runtergezogen! Aber damit ist auch eins klar: Nicht wir sind der Teufel, der irgendwelchen armen, unschuldigen Leuten das Leben zur Hölle macht – dieser Manning ist es! Während wir rausgehen und nach ganz bestimmten Kriterien sammeln, hat der gesammelt, was er kriegen konnte. Mit anderen Worten: Dieser Manning hatte einen Totalitätsanspruch, den wir gar nicht haben! Diese ganzen Videos und Reports und Depeschen zeigen also gar nicht unsere, die zeigen seine Sicht auf die Welt!

 

III

bagdad_70xxxHalten wir also fest: Was in dem Video zu sehen ist, ist die Welt wie Bradley Manning und ein paar andere Kriminelle sie sehen. Eben jene Subjekte, die mit der Verbreitung vertraulicher Informationen und Daten einen Totalitätsanspruch zum Ausdruck bringen, den wir gar nicht haben. Und zwar nicht nur im Krieg, das heißt außerhalb unseres großartigen Landes, sondern auch in diesem selbst. Wenn wir also diesem Manning in der Anklage »Kollaboration mit dem Feind« vorwerfen, so zeigt das doch nur, wie zurückhaltend wir mit unseren Ansprüchen sind, dann eigentlich müssten wir ihn wegen »Kollaboration mit sämtlichen Feinden« anklagen.

Aber gut, im Grunde reicht ja auch schon einer für die Todesstrafe aus, und die müsste er laut Gesetz auch kriegen. Aber genau das wollen wir nicht. Denn wir sind nicht nur gegen den Krieg und für die Kinder, nein, wir haben auch sittliches Bewusstsein! Und deshalb verzichten wir auf die Todesstrafe und fordern nur lebenslänglich. Außerdem werden ihm wegen der »grausamen, unmenschlichen und demütigenden Haftbedingungen« (nicht unsere Worte) 112 Tage Gefängnis erlassen.

Nur am Rande: Wie viel, glauben Sie, ist lebenslänglich minus 112 Tage?

Aber gut, wie dem auch sei, kommen wir zu etwas anderem: Kinderwagen. Sie wissen schon, die kleinen, klappbaren, auf denen steht: »Kind vor dem Zusammenfalten entfernen.« Nun, um es kurz zu machen, das ist so ziemlich genau die Art, wie wir diesen Manning behandelt haben. Und glauben Sie mir, wir hätten ihn auch zusammenfalten können, und zwar so sehr, dass wir ihn per Feldpostbrief zurück nach Amerika hätten schicken können. Aber wir haben es nicht getan. Weil wir sittliches Bewusstsein haben. Und weil wir uns um ihn kümmern. Wir passen nämlich auf, dass ihm nichts passiert. Wir passen so sehr auf diesen Manning auf, dass er sich nicht mal selbst passiert! Weil, unter uns gesagt, wer seinen Schwanz und sein Land verrät, der verrät auch gern mal sein Leben.

Ich meine, wir hatten eigentlich schon alles entfernt, was so ein Leben künstlich verkürzen könnte und ihn unter besonderen Beobachtungsstatus gestellt. Hat alle fünf Minuten Besuch von einem Wärter bekommen und musste auch immer schön sichtbar bleiben, am Tag wie in der Nacht, 24 Stunden, rund um die Uhr, denn niemand von uns will morgens die Tür aufmachen und einen Soldaten sehen, der sich den Arsch eigenhändig bis zum Hals aufgerissen hat.

Sie sehen, wir haben uns also wirklich gekümmert. Aber was tut dieser Manning? Beschwert sich beim Richter und erklärt den Wärtern, wenn er wolle, könne er sich auch mit seinen Badelatschen umbringen. Also haben wir sie ihm weggenommen. Dachten, er kriegt dann kalte Füße und lässt es sein. Aber er hat gesagt, er könne es auch mit seiner Unterhose tun. Also haben wir ihm die auch weggenommen.

Dann war er nackt und hat auch nichts mehr gesehen, denn die Brille haben wir ihm auch … Aber es war ohnehin schon spät und er musste ins Bett und konnte sich auch nicht unter dem Kissen ersticken, denn das hatten wir ihm schon vorher in die Hartfasermatratze genäht. Das Laken haben wir ihm natürlich auch weggenommen, weil wir dachten, dass ein warmer Bruder sowieso nicht friert.

Andererseits, er hat ohnehin nie lange geschlafen, musste um fünf Uhr früh raus und hatte dann Freizeit bis abends um acht. Gewiss, es war ihm verboten, sich in der Zeit hinzulegen oder sich mit dem Rücken an der Wand anzulehnen, aber wir wollten einfach, dass ein aufrechter Mensch aus ihm wird.

Um ehrlich zu sein: Er ist dran gescheitert. Hat einfach nicht durchgehalten und ist immer wieder zusammengeklappt. Also haben wir uns schweren Herzens entschlossen, ihn zu verlegen.

Sie sehen, wir haben nicht nur sittliches Bewusstsein und sind gegen den Krieg und für die Kinder, nein, wir sind auch für den aufrechten Gang. Wofür wir dagegen gar nicht sind, das sind Leute, die der ganzen Welt unsere Ausritte zeigen. Denn das ist gegen das Gesetz. Und wer das Gesetz bricht, der versucht auch uns zu brechen. Aber wir brechen nicht. Und wir brechen auch nicht zurück. Denn wir haben das Gesetz. Und das Gesetz bricht jeden, der es gebrochen hat. Und zwar so lange, bis er sittliches Bewusstsein hat. Und gegen den Krieg ist. Und für die Kinder. Und den aufrechten Gang. Denn dafür ist das Gesetz da. Es ist schließlich nicht umsonst von einer Gruppe aufrechter Männer geschaffen worden.

Ich weiß, manche sagen, das Gesetz sei alt, und die Männer, die es geschaffen haben, längst tot. Und die Anklage gegen Manning berufe sich in einigen Punkten auf Präzedenzfälle, die aus der Zeit des Bürgerkriegs stammen.

bagdad_280cNun, das mag sein, aber die alten Zeiten waren in diesem Fall gute Zeiten. Und der Geist der Gesetze ist in unserer großen Nation auf ewig lebendig. So lebendig wie der Präsident unserer friedliebenden Gruppe, der nicht umsonst den Friedensnobelpreis erhalten hat. Er ist aber nicht nur unser Präsident, er ist auch der Oberbefehlshaber unserer Streitkräfte, weshalb im Grunde auch unsere Streitkräfte Friedensnobelpreisträger sind. Wir sind also nicht nur gegen den Krieg, sondern auch für den Frieden. Und außerdem für die Kinder und den aufrechten Gang. Und haben dazu noch sittliches Bewusstsein. Aber das ist noch lange nicht alles, denn den Preis für den Frieden, den haben nicht die Iraker oder die Afghanen oder sonst ein von uns befreites Volk bezahlt, sondern die Schweden. Volle zehn Millionen haben die Schweden für den Frieden bezahlt. Kronen wohlgemerkt, nicht Menschen. Wobei ich nicht verhehlen will, dass sie uns trotzdem noch immer einen weißblonden Australier schulden.

Aber gut, da wir einmal bei den Zahlen sind … Was ist, das frage ich Sie ganz offen, heute, an diesem herrlichen Tag, was ist die Verhaftung einer einzigen Person gegen 251.287 widerrechtlich veröffentlichte Botschaftsdepeschen aus aller Welt, gegen 400.000 widerrechtlich veröffentlichte Geheimdokumente aus dem Irak-Krieg und gegen 90.000 widerrechtlich veröffentlichte Reports aus unserem Anti-Terror-Einsatz in Afghanistan? Ich sage es Ihnen, das ist eine ganz einfache Rechnung:

Freigekommene: 741.287

Verhaftete: 1

Sie sehen, wir haben nicht nur sittliches Bewusstsein, wir haben auch Zahlen, die das belegen.

 


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Francis Nenik

Francis Nenik lebt als Bauer auf dem Land und schreibt in seiner Freizeit. Er hat diverse Bücher veröffentlicht. Seine aktuellen Werke umfassen den Loseblattroman »XO« (2012) sowie ein Buch mit Texten in strenger Alliteration (2013, zusammen mit der Illustratorin Halina Kirschner). Auf Englisch erscheint im Oktober sein Buch »The Marvel of Biographical Bookkeeping« in der Übersetzung von Katy Derbyshire bei Readux Books. Ein Großteil von Neniks Werken existiert dabei nicht nur auf dem Papier, sondern kann – dank der jeweils verwendeten Creative Commons Lizenz – in seiner digitalen Version kostenlos im Internet gelesen, heruntergeladen und weiterverbreitet werden. www.the-quandary-novelists.com / ww.ed-cetera.de

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