Sätze vom Grunde

Raunbär Ödön rutscht von seinem Sonnenstein herunter. Der Himmel hat sich verhängt und wärmt seinen Pelz nicht mehr. Winde ziehen auf. Der Raunbär flüchtet in den Wald. Auch dort tobt der Sturm so stark, daß ihm klamm um Herz und Magen wird. „Was hat die Luft verärgert“, raunt er, der Bär, „warum ist sie so wütend?“ Ein Baum hält dem Sturm nicht stand. Er wirft seine Äste ab. Ödön, an der Stirn getroffen, stirbt auf der Stelle.
Geier und Hyänen wundern sich über den Zettel, den sie in seinem Pelz finden. Darauf steht: „Und die Leute werden sagen, in fernen blauen Tagen wird es einmal recht, was falsch ist und was echt. Was falsch ist, wird verkommen, obwohl es heut regiert. Was echt ist, das wird kommen, obwohl es heut krepiert.“

Panizza, der meterdicke Großstadttäuberich tut sich schwer mit seinesgleichen. Meistens sitzt er allein und freut sich, wenn es regnet. Das wische die Sünden von der Welt, das spüle sie in Flüsse und Ozeane, oder hinab in die Hölle. Panizza spürt, daß sich seine Gedanken von der Logik lossagen. Zusehends verheddern sie sich. Zum Unglück haben sich seine Mutter und der Taubenkaiser gegen ihn verschworen. Ihre Agenten sind hinter ihm her, und Pfeifereien suchen ihn heim. Hinter roten Mauern aber ist er sicher. Man läßt ihn Körner picken und Gedanken streuen, so viel er will. Wenn sein Kopf nur frei wäre, frei von wimmelnden weißen Maden!

Wenn ein Zugvogel nicht mehr zieht, fault es im Königreich Neapel. Finsternis hat sich über Vico gelegt, ewige Finsternis. Er sieht die Welt nicht mehr, er kann ihre Entwicklung nicht mehr ordnen, er kann keine Gedanken zum Horizont schicken, um darüber hinauszublicken. Oft grämte sich der Vogel, warum man ihm den Platz nicht eingeräumt habe, der ihm gebühre. Vico durfte auf den Zügen in den Süden nie ganz vorn im Wind fliegen. Das hat Nacht über ihn gebracht, ewige Nacht. Sein Geist hebt nicht mehr ab, sein Schnabel bleibt geschlossen. Mit Hölderlin und Nietzsche hockt er Tag für Tag auf der Veranda. Sie werden geputzt, gefüttert und zu Bett gebracht, aber mit dem Fliegen ist es aus.

Rüdiger Saß

geboren 1966 | Wohnhaft in Hamburg | Soziologe | zuletzt erschienen: Neues von der Heimatfront (Roman). Bench Press Publishing, 2008. Siehe auch www.myspace.com/leereimer - Noch zu haben: Nachtstühle - Erzählungen und Prosa

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