Sonntagvormittag

kinderarbeit_kindjesu_aEin Mädchen sitzt im giftigen Dreck an einem Sonntagvormittag. Eine Stunde darf sie heute spielen. Dann geht es an die Hausarbeit. Sie ist zwölf. Sie weint nicht mehr. Dafür hat sie keine Kraft, nach siebzig Wochenstunden in der Fabrik. Dort hängt ein wertloses Zertifikat, auf dem etwas über Kinderarbeit steht, das sie nicht lesen kann. Sie wird nie lesen lernen, nie ein Wort schreiben in ihrem Leben und sie kann arbeiten so viel sie will – es wird niemals zu mehr reichen als zum Überleben. Gerade so. Einmal im Jahr kommt ein Schauspieler aus Deutschland, der von Sicherheit und Brandschutz spricht. Dann sind die Chefs ganz aufgeregt. Auch arte war schon da, aber jetzt ist wieder alles ruhig.

kinderarbeit_kindjesu_gUnter dem öligen Gemälde des alten Mannes, des Gründers, des Stifters, des Vorbilds, des großen Vaters, zu dem alle aufblicken müssen, dem auch lange nach seinem Ableben noch alle den Schwanz lutschen, da stehen sie, die jungen Luftnummern, die Vergewaltiger, die Quarterbacks, die Gewinner, schieben nach links und rechts, kaum Platz hier, so viel Ambition drängt sich auf dem Flur der elitären Anstalt, in die niemals eines der kleinen Mädchen von der Müllhalde in Bangladesch ihren schmutzigen Fuß setzen wird, weil sie nicht von solch edlem Geblüt ist, wie das Gesindel hier, die Hooligans, die sich mit wohlgesetzten Formulierungen gegenseitig die Gewissheit nähren, das alles seine Leistungsgerichtigkeit hat. Wenn die Schlampe sich nicht ficken lässt, machen wir sie eben erst besoffen. Wir halten zusammen, wir Burschen. Wir werfen Stipendien-Bröckchen in die Vorstadt. Seht, wie gierig sie danach schnappen.

kinderarbeit_kindjesu_cDer Tag wird kommen, da die zornigen jungen Männer der Vorstadt aufhören, sich gegenseitig zu zerfleischen, da nicht mehr Hunderte, sondern Hunderttausende an den Küsten der Kaimaninseln stehen. Dann werden wir ihnen den Weg weisen, dorthin auf die Anhöhe, auf der ihr im Milliardärsclub mit Übersicht eine eurer Parties feiert, unschuldiges Blut trinkt und die zugeschanzten Erfolgen beprostet. Ihre Hoffnungslosigkeit wird gnadenlos wüten unter euch, wenn sie den Inhalt eurer Gläser entdecken, der sie an die eigenen Verluste erinnert. Sie werden keine Gnade kennen, weil eure Bild- und Klangteppiche nur das Tier in ihnen genährt haben.

kinderarbeit_kindjesu_fWir alle können es nicht mehr hören, es stört die reibungslosen Abläufe mit den glänzenden Oberflächen. UPS möchte so gern alles synchronisieren. Die Störungen werden nicht aufhören. Sage ich Tropfen, sagst du Tropfen, sagen tausend Tropfen, die steinerne Herzen höhlen, bis sie einmal bersten. Wenn nicht heute, dann in zwanzig Jahren, oder in fünfzig. Es wird immer weitergehen, denn wir sind Menschen. Vielleicht gelingt es euch, uns alle niederzumachen mit euren Maschinen. Dann werdet ihr in unserem warmen Blut ertrinken und wir haben doch gewonnen. Und ihr werdet strampeln, weinen und rufen. Wie ein kleines Mädchen.

Walter Mey

"Ich bin zweiundfünfzig und lebe und arbeite als Berufskraftfahrer und Gelegenheitsschriftsteller in der rheinischen Provinz. Seit den Achtzigern arbeite ich mal mehr, mal weniger ehrgeizig an meinem ersten Roman. Keine Familie. Was noch? Was noch? Tja. Ich bleibe am Ball."

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