Zukunftsperspektive

Ich befinde mich in einem großen, völlig überfüllten Seminarraum. Vorne steht ein adrett gekleideter Dozent in Anzug und Krawatte. Alles um mich herum schweigt und in der Luft hängt diese schmerzlich-drückende Kälte, die in diesem Moment für mich so normal wie nichts anderes ist. Das Seminar, in dem ich mich befinde, trägt den Titel „Rückenschonungstechniken bei der Kopulation“. Leistungstechnisch hocke ich hier auf einem verdammt morschen Ast! Ich erinnere mich an ein Gespräch mit dem Dozenten, in dem er meinte, ich müsse mich deutlich ins Zeug legen, um am Ende überhaupt noch bestehen zu können.

Und um eine gute Note zu bekommen.

Die Belastung ist immens. Ich bange um meinen Abschluss, bange um meine berufliche Laufbahn. In meinem Kopf gebären all diese Sorgen erschreckende Fantasien über sozialen Abstieg; über Vereinsamung. Es kommt mir so vor, als würde der Dozent jede meiner Bewegungen beobachten, als würde er geradezu auf einen Fehler warten!

Wir liegen alle mit den Oberkörpern vornübergebeugt auf den Tischen. Unsere Hälse sind ausgestreckt und wir warten untertänigst auf die Anweisungen von vorne. Von oben.

„Nun, meine Damen und Herren“, beginnt der Dozent zu dozieren, „machen Sie bitte ein Hohlkreuz. Diese Stellung wird von vielen Kunden bevorzugt. Der Kunde wünscht sich eine gewisse Anonymität in diesem Dienstleistungsgewerbe, was bedeutet, dass er Ihnen ungern in die Augen sehen möchte. Dafür sind diverse psychologische Faktoren verantwortlich, auf die wir im Rahmen dieses Seminars nicht weiter eingehen werden. Viel wichtiger sind eben jene Belege, welche jüngste statistische Erhebungen hervorgebracht haben. Die Zahlen sprechen für sich! Kunden bevorzugen genau diese Stellung! Und gerade deswegen sollten sie mit diesen Situationen umzugehen wissen. Sie können keiner beruflichen Belastung in diesem Wirtschaftssektor standhalten, wenn sie nicht in der Lage sind, mit den gegebenen Anforderungen umzugehen.“

Ich studiere Prostitution Studies.

Auf Master.

So wie alle anderen hier. Später werden die meisten von uns Master’s of Prostitution sein. Und nichts könnte für mich in diesem Moment, da ich hier auf dem Tisch liege und zum Dozenten schiele, normaler sein.

„Nun, meine Damen und Herren, simulieren sie den Stoß von hinten. Achten sie auf die richtige Stellung ihrer Rückenmuskulatur, so wie wir es in der zweiten Einheit gelernt haben. Achten sie besonders auf die Muskelaktivitäten im Steißbereich.“

Musculus serratus anterior, Musculus rhomboideus major, Musculus levator scapulae …

Ich murmele es leise vor mich hin.

DildoDie Masse – über ihre Tische gebeut – beginnt arrhythmisch vor und zurück zu stoßen. Oberkörper robben auf dem lackierten Holz herum. Tischbeine knarschen und quietschen auf dem blanken Boden und der große Raum lässt diese Klangvielfalt zu einem riesigen akustischen Ungetüm mutieren. Die Brüste meiner Nachbarin wabern auf der Tischplatte hin und her wie Götterspeise.

„Sehr gut, Frau Hübner!“

Der Dozent wandert durch die Reihen, beäugt den Lernerfolg jedes einzelnen. Er ist einer dieser jungen, modernen Dozenten, die durch ihre Kompetenz, sowie ihre Lockerheit, aber auch durch eine gewisse „moralische Solidität“ zu bestechen versuchen. Ein Narzisst, kurz gesagt. Definitiv ein Gewinner im monetären Survival of the Fittest. Das sieht man sofort.

„Noch ein wenig mehr durchdrücken, Frau Nansen. Hier! Warten Sie, ich zeige Ihnen mal, wie sich das in Wirklichkeit anfühlt.“

Aus der Ferne beobachte ich, wie der Dozent hinter ,Frau Nansen‘ steht, die Hände an ihre Hüften legt und den Kunden simuliert. Immer wieder korrigiert er ihre Rückenstellung. Seine rechte Hand löst sich ständig von ihrer Hüfte und berührt mit dem Zeigefinger diverse Stellen auf ihrem Rücken. Frau Nansen korrigiert ihre Haltung – tangiert irgendwann beinahe die Perfektion.

„Ja, so ist es gut, Frau Nansen.“

Das Robben und Knartschen nimmt kein Ende. Fleißig bereiten sich die Studierenden auf ihre Zukunft vor. In den Augen der Leute erkennt man deutlich die Schwere dieser Übung. Aber Erfolg will hart erarbeitet sein. Der moderne Mensch bestreitet seinen Lebensunterhalt selbst. Als Zeichen seiner Unabhängigkeit und Pflicht gegenüber der Gemeinschaft. Jeder hat das Recht auf Glück, gutes Leben und Karriere … und auf die dazugehörige Bildung! Eine gute Ausbildung ist deshalb unumgänglich.

„Und jetzt“, sagt der Dozent und macht eine kleine pathetische Pause, „runter mit den Hosen“. Er klatscht voller Tatendrang in die Hände und schlendert erhobenen Hauptes seinem Pult entgegen. Mit seinem leichten Grinsen im Gesicht. Das, gemischt mit dieser Prise des Aparten; immer bemüht, witzig zu sein – cool zu sein!

Man kann nichts dagegen machen.

Er sitzt am längeren Hebel.

Mit gespreizten Fingern greift er in das von beklemmender Ordnung durchsetzte Lehrmittelsortiment auf seinem Pult: Eine Reihe pedantisch nebeneinander aufgestellter so genannter „Probephalli“, nebst einer Auswahl an diversen „Gleitliquiden“. Derweil klimpern die Gürtel und knistern die Hosen. Streichen plump an nackten Beinen herab gen Fußboden.

Ich hasse diesen Teil  …

Der Dozent zieht jetzt wieder durch die Reihen – bewaffnet mit Lehrmitteln – und schaut nach links und rechts; sucht sich einen Unfreiwilligen. Wie in der Schule: Mündlicher Probetest; Lernzielkontrolle. Immer hofft man, dass man es nicht sein wird. Dass sie einen heute nicht kriegt – die Noten- bzw. Leistungsmaschine.

Dann verlässt er mein Blickfeld, ist hinter mir und ich kann ihn nicht mehr sehen. Nur noch hören. Das Geräusch seiner feinen, schwarzen Herrenschuhe mit den flachen Sohlen, wie sie sich hinter mir unentschlossen bewegen.

„Herr Gericke“, sagt der Dozent hinter mir.

Scheiiiße …

„Wie wär’s mit Ihnen?“

Ich schließe betroffen die Augen und ergebe mich dem Schicksal. Es ist dieser ganz bestimmte Moment, in dem du weißt:  jetzt ist alles vorbei. Keine Chance mehr. Es war ja auch abzusehen. Mein schlechter Stand, noch nicht einmal dran gewesen in den letzten Sitzungen…

„Gern“, antworte ich untertänigst. Mit einem Lächeln. Ich werfe es mir über die Schulter. Es gehört sich so. Man muss halt auch an die anderen denken, deren Wohl und Wehe ja auch davon abhängt, inwiefern die eigenen Handlungen dem moralischen Regelwerk genügen. Man sitzt ja im selben Boot! Also bitte nicht schaukeln.

„Sehr schön.“

Dildo

Ich höre Geraschel hinter mir. Dann furzt die Tube auch schon das Gleitmittel auf die Plastikeichel. Ich höre das Schmieren und Glitschen. Gleich ist es soweit. Ich atmete tief ein.

Hoffentlich mache ich alles richtig!

Und als der glibberig-kalte Eichelansatz schon seinen ersten Millimeter zwischen meine Arschbacken macht, erklingt mit einem Mal dieses schreckliche Geräusch. Die Leute schrecken auf. Kaum merklich. Aber es ist, als ziehe eine Welle negativer Energien durch den Raum. Es kommt mir bekannt vor – dieses Geräusch. Und … es scheint aus meinem Rucksack zu kommen!

Scham kocht in mir hoch. Ich spüre, wie ich rot werde. Meine KommilitonInnen schauen mich an, erkennen mich als Quelle des störenden Geräusches, das ihre Karriere kompromittiert. Ich erkenne meine Schuld an, aber … woher kenne ich dieses Geräusch nur?

Mein Blick verschwimmt plötzlich, der Raum verschwindet. Ganz langsam. Das letzte, was ich sehe, sind die strafenden Augen meiner Mitschiffbrüchigen.

Dann wache ich auf.  Blicke um mich. Mein Zimmer. Alles normal. Zu meiner Linken – der Wecker. Meine flache Hand donnert auf ihn hernieder und bringt ihn zum Schweigen. Er klingelt, weil um Zehn mein Seminar beginnt. Ich atme tief durch.

Es war nur ein Traum …
Gott sei Dank!
Nur ein Traum.
Alles nur ein böser Traum.

Maik Gerecke

1983 in Hannover geboren. Studierte von 2007 bis 2011 Philosophie und allgemeine Sprachwissenschaft in Göttingen. Lebt zurzeit in Berlin. Verschiedene Kurzprosa in Anthologien und Magazinen.

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