Refraktärphasen

Es gibt nichts zu tun. Du kannst weder den Tod noch das Leben annehmen. Du sitzt da in deiner Wohnung und hörst das Rauschen der Autos, die unter den geschlossenen Fenstern vorbeifahren. Du bekommst das Studiengeld von deinen Eltern, mit dem du deine Wohnung finanzierst; du hast einen kleinen Nebenjob. Du lebst nicht schlecht, du faule Sau: Du stehst spät auf, du hast keine dringlichen Pflichten, du studierst schon lange nicht mehr. Du hast dein schlechtes Gewissen, du hast deine kleinen Pseudo-Tätigkeiten, mit denen du dein Nichtstun kaschierst. Du hast soviel Zeit und keine Idee, wie es weitergehen soll. Du schiebst dein Leben auf. In dir ist schon lange eine latente Krise, die dein ganzes Leben überschattet. Du wartest auf ein Wunder, auf eine Verzauberung; du wartest auf eine Naturkatastrophe, auf einen Krieg. Du bist dir bewusst, dass alles in und bei dir selbst liegt. Du kennst deine Fehler in- und auswendig; du kannst deine Schwächen und Ängste vor- und rückwärts buchstabieren; du meinst ihre Gründe und Gegengifte zu kennen. Trotzdem änderst du dein Leben nicht.

Du weißt, dass menschliches Glück unter bestimmten Voraussetzungen möglich ist: Gute soziale Kontakte, reichhaltige Aktivitäten, eine Arbeit, die Freude bereitet, eine gut funktionierende Partnerschaft, eine optimistische Einstellung dem Leben gegenüber – du musst dich also nicht wundern, dass du ständig am Rande der Verzweiflung lebst. Aber im Grunde interessiert dich das sehr wenig, du bist nicht unbedingt ein erfolgreicher Manager des glücklichen Lebens. Du wirst dich hier nie richtig wohl fühlen und hast dich daran gewöhnt. Du fühlst dich oft krank, aber sagst dir immer wieder: Gesundheit ist zum Ausgeben da. Für deine Rekonvaleszenz brauchst du, neben dem Schutzwall aus Gewohnheiten, die Einsamkeit, die Stille, das Ordnen der Dinge, die Gespräche mit dir selbst. Wie jeder suchst du nach angenehmen Momenten und Empfindungen; du lebst in der Postmoderne, dein Körper verbietet sich jegliche Ahnung von Deprivation. Das Bett ist deine Freundin. Viel schlafen, wenig leben: das ist deine Formel. Du magst den Winter, die Zeit der großen Nacht. Du willst die Ruhe fühlen, die Stille und die Dunkelheit; du willst das Aufhören spüren, die ewige Dämmerung. Du willst das Nicht-Sein aktiv miterleben.

Deine Augen sind in eine blinde Einstellung gerastet. Du siehst dich aufstehen, dann gehst du aus der Wohnung … Du kannst deinen ganzen Tagesablauf gedanklich vorwegnehmen: du tust alles nur, um es getan zu haben. Gedämpft hörst du hörst die Autos vorbeirauschen und fühlst dich krank. Du weißt, dass du nur aufzustehen brauchst, die Rollladen hochziehen und die Fenster öffnen musst, um den Kontakt zur Außenwelt wieder herzustellen. Es gibt einen Moment, wenn man so daliegt, einen Moment, wo man schon gewillt, wo man schon ganz kurz davor ist aufzustehen … und da ist dann dieses Grauen, ein Gefühl, ein absolutes Gefühl der Erschöpfung, der Unmöglichkeit, der Unfähigkeit – dies überwunden, steht man. Du weißt, dass der Ruck, den man sich dazu geben muss, eine Art Geburt ist. Es gibt jeden Tag drei Geburten: Aufwachen, Aufstehen, aus der Wohnung gehen. Alle sind immer wieder aufs Neue ein sanfter Schock.

Du hast deine Gewohnheiten: die Abfolge deines Waschrituals ist immer dieselbe. Die Griffe, die Bewegungen, die Handhabung der Dinge sind immer die gleichen. Wie du dich abtrocknest, wie du dich anziehst und alles weitere. Deine Gewohnheiten funktionieren wie eine Weiche: sie leiten dich in den Tag um – in das bisschen, was davon eben übrig bleibt.

Du lebst in einer mittelgroßen Stadt. Was machst du hier? Du gehst einkaufen, du spülst, du putzt deine Wohnung. Du isst. Du wichst wie du pisst: 20 Sekunden oder ein bisschen mehr. Du erhältst dich am Leben; leihst dir Filme aus oder liest ein paar Bücher. Du versuchst von den Menschen nichts mehr zu wollen, nichts mehr zu erwarten. Manchmal, wenn du ein Stück Wirklichkeit brauchst, gehst zu den Nutten, weil es einfach und unkompliziert ist. Moralischen Einwänden weichst du aus wie den Leuten in der Innenstadt, du trennst den Müll nicht. Du bist unpolitisch, ein Idiot. Du hast dein kleines Leben und deine kleinen Genüsse; du hast deine Angst, da ist diese Leere, die undeutliche Wahrnehmung eines Fehlens, etwas, das du nicht benennen kannst. Da ist diese Entfremdung, die du empfindest, das Gefühl, das Leben wäre unerreichbar, diese unaufhebbare Distanz. Du hast deine Vergangenheit, deine Unwirklichkeit, vereinzelte Bilder. Du betreibst deine Studien: für dich ist alles tief, für dich ist alles ein Verweis. Oft glaubst du gar nichts zu wissen. Vom Leben und überhaupt.

Du hältst dich nicht für intelligent: du bist langsam. Deine Aufgabe ist es eher, Intelligenzen zu erkennen und dich im Unterschied zu ihnen zu begreifen. Du bist inkompetent. Deine Allgemeinbildung ist mangelhaft. Wozu, sagst du dir, gibt es Bücher, CDs, Festplatten, also verlässlichere Speicherplätze? Das Nichtwissen lastet: es ist schwerer als dein Wissen. Dunkel erahnst du mehr von dem, was du nicht weiß, als das, was du tatsächlich an Wissen vorzuweisen hast. Deine Weitsichtigkeit reicht aus, um deine totale Beschränktheit ins Unendliche ermessen zu können.

Manchmal fehlen dir Wörter und Begriffe; manchmal wird dir aus der eigenen Sprache eine fremde. Es fällt dir schwer, dich in anderen Nervenbahnen zu orientieren. Du bist nicht diszipliniert, deine Konzentration ist schlecht, dein Hirn voller Löcher, das meiste fällt durch. Du musst öfters Nachfragen und die Leute wiederholen ihre Sätze. Deine Stimme im Kopf ist laut und beharrlich. Du hast deine Themen und Begriffe, die Gedanken, die einen eben haben. Du bist ein Klischee wie jeder andere. Du bist übervoll von dir. Du kotzt dich selbst an. Du kommst dir vor wie ein Behinderter, der gerade eben noch um seine Behinderung wissen kann, ohne sie überschreiten zu können. Dennoch sind, wie du pathetisch meinst, deine Verblödungsversuche allesamt gescheitert.

Du hast keinen Bereich des Könnens, du hast nie geübt, nie gelernt: weder eine Fremdsprache, noch ein Instrument oder Handwerk. Nicht mal tanzen kannst du. Du hast nie eine lange Zeit im Ausland verbracht, du hast, wie man sagt, nie wirklich etwas gewagt. Du hast dich einmal für eine Frau aufs Spiel gesetzt, aber das war kein Risiko, sondern die blinde Umklammerung eines Neugeborenen. Du warst oft peinlich. Du hast keine besonderen Talente, was die ganze Sache schwierig macht. Indem man sein Genre, seinen Beruf wählt, denkst du oft, wählt man sich selbst. Aber bei dir ist da nirgendwo ein fester Untergrund, auf dem sich wirklich bauen ließe.

Deine Interessen sind unsichtbar: es ist das Rätsel, sagst du romantisch, das dich verzehrt. Du hältst nicht viel von der Idee der Individualität: du empfindest dich als leeres Gefäß, das sich mit fremden Dingen anfüllt. Es gibt nur die wechselnden Einflüsse, die mit dir spielen wie der Wind mit allem Losen. Schwammig bist du und diffus. Du kannst dich schlecht abgrenzen, du verlierst dich im Abstrakten. Du bist unfähig, den Widerspruch zwischen Gedanke und Tat zu überwinden, du bleibst im Getriebe des Selbstzweifels stecken. Es werden keine Punkte für besser denken und besser wollen vergeben: Du weißt, dass nur die Tat, dass nur das Machen zählt. Du bist was du machst: du bist nichts. Du sprichst gerne von der Nichtigkeit des Lebens und weißt über sie Bescheid. Überhaupt gelingen dir die Überleitungen vom Persönlichen ins Allgemeine sehr gut.

Ein Tag wie jeder andere, der Tag geht um, es wird wieder dunkel draußen. Allein ist nichts wichtig; die Ereignisse versanden stumm in einem selbst. Du hast deine Erledigungen gemacht. Du hast tausendmal die gleichen Bewegungen ausgeführt, du hast tausendmal die gleichen Gedanken gedacht. Es ist still in deinem Zimmer, die Menschen sind wieder zur Ruhe gekommen, in deinem Zimmer ist es still. Dieses Leben, was du jetzt führst, ist eine Alternative, es wiegt nichts. Was du jetzt lebst, das ist schlechte Zwischenmusik, vieles, was man weglassen kann. Du hättest auch nicht sein können. Von dir gibt es Unzählige und keinen. Du weißt, dass dein Leid kein Anrecht auf Allgemeingültigkeit hat.

Die Uhr in deinem Zimmer. Die Stille. Das Ticken. Der Aufstand, der nie kommt. Manchmal zuckt noch eine Welle Wut durch dich. Doch Überdruss und Langeweile warten wie Schlangen in jedem Winkel deines Zimmers. Man muss alle Systeme verlassen, um wahrhaftiger zu sein, denkst du und starrst auf den Wasserhahn, aus dem in unregelmäßigen Abständen ein Tropfen Wasser tropft. Man wird nie klüger. Du spürst den Abgrund in jeder Abteilung deiner Sinneswahrnehmung, in Geräuschen, in Gerüchen, in deinen Gedanken, in jeder Tätigkeit. In der Stille. Du steigst hinter den Alltag, hinter die Zeit; du bist jenseits des Trubels, jenseits der Massen.

Die Tür öffnet sich, der Raum ist dunkel. Da ist ein Winkel, aus dem Licht zu kommen scheint; da ist ein Buchrücken, den man befühlt. Aus dem Unmerklichen tritt etwas ins Merkliche über. Transduktion. Man lebt. Es gibt ein Auge, das sieht, und ein Auge, das blind ist und in dem man sich spiegelt. Du bläst den Zigarettenrauch gegen deine Fresse und dein Blick ist glasig. Alles ist sinnlos. Hinter dem Spiegel ist nichts. Wir befummeln die Wahrheit mit tausend Dietrichen: sie ist nicht kitzelig; sie bleibt unbeweglich, starr, unbekannt. Nein, du Trottel, das sind keine Zeichen: das sind Selbstverweise. Wir sind eingesperrt in unsere Ordnung. Da liegt ein kaputter Regenschirm im Rinnstein. Der Mensch ist allein. Du bist allein. Draußen zwitschern schon die ersten Vögel. Was sie singen? Morgen wird wie heute sein.

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