Tod im Stadtpark

„Wie kamen Sie dazu, Mellereck?“
„Diese Nächte, vorher fühlte ich mich von ihnen beschützt, aber dann haben sie mir wehgetan, ich habe geschrien.“
„Was haben sie Ihnen getan, die Nächte?“
„Die Dunkelheit ist böse, ich will nicht lebendig tot sein. Das Schwarze will mich totschlagen, Herr Doktor.“
„Ich bin kein Doktor.“
„Warum bellen Sie nicht?“
„Wie bitte?“
„Weil Sie kein Hund sind. Sie sind ein Doktor, der bellt, ich weiß es, und Sie wollen mich für verrückt erklären.“
„Unsinn… ok, ok. Und die Tage, was ist mit den Tagen, Mellereck?“
„Sie sind nicht da, weg. Das habe ich Ihnen doch schon gesagt.“
„Ja, natürlich… ich, äh… ich dachte nur daran, wie sich das anfühlt.“
„Schlimm. Die Tage sind hell aus Angst vor der Nacht, das ist alles.“
„Die Sonne, Mellereck. Die Erde dreht sich um sich selbst, einmal am Tag.“
„Die Sonne ist eine große Lampe, sie scheint, sie glüht, und wir glauben, es wäre das Licht. Aber ich habe gesehen, wie weit die Nacht reicht, unendlich weit. Die Sonne ist viel zu klein für die Nacht, Herr Doktor.“
„Die Sonne ist Ihnen zu klein, die Tage sind weg, und die Nacht ist böse… da bleibt Ihnen nicht viel.“

StadtparkMellereck hat ein belegtes Brötchen in die Hand genommen und betrachtet es, er sagt: „Gut, dass ich keinen Hunger habe. Nein, mir bleibt nicht viel, wirklich nicht. Ich könnte das da essen, immerhin. Bierschinken, ausgerechnet Bierschinken… möchten Sie?“
„Nein. Mögen Sie keinen Bierschinken? Da sind auch noch Käsebrötchen und eines mit Mettwurst. Mellereck, Sie wollten etwas zu essen haben.“
„Von Bierschinken war nicht die Rede. Ein unglücklicher Zufall, ich ziehe das Unglück auf mich.“
„So sollten Sie nicht denken, das zieht Sie nur weiter runter.“
„ Manchmal, Herr Doktor, wenn es windig wird, fühle ich plötzlich den Tag. Schlagartig. Dann kaufe ich mir eine Zeitung, vor Glück.“
„Erzählen Sie weiter.“
„Ich reiße die Seiten nacheinander raus und knülle sie. Der Wind, er freut sich, er nimmt sie mit, er spielt damit. Man darf die Seiten nicht zu stark zerknüllen, man muss lockere Bälle machen, sonst geht der Wind über sie hinweg.“
„Sie lesen die Zeitung nicht?“
„Sie denn?“
„Nun erwarten Sie, dass ich belle, Mellereck. Selten – ich lese selten Zeitung, stimmt überhaupt. Die Zeitung ist jeden Tag da, aber… aber es geht hier nicht um mich, sondern um Sie. Kommen wir wieder zur Sache, also, noch einmal: Wie war das? Sie mussten schießen. Und sie haben noch nie geschossen, das haben Sie gesagt.“

„Einmal ist immer das erste Mal.“ Mellereck hat sich ein anderes Brötchen genommen, er starrt auf die Käsescheibe und hebt sie leicht an. „Er hat es mir vorher gezeigt – langsam und entschlossen durchziehen, er hat mich gewarnt, vor dem Knall und vor dem Rückstoß. Ob das wohl Gouda ist?“
„Das ist verdammter Käse, Mellereck! Und den Gefallen haben sie ihm getan, einfach so?“
„Nein, ich war es ihm schuldig. Das habe ich Ihnen bereits erklärt.“
„Weil er Ihnen über die Nächte geholfen hat.“
„Ja… wenn ich sie zu Hause nicht mehr aushalten konnte.“
„Sie haben eine Villa, Sie sind ein reicher Mann, sie hätten Freunde zu sich einladen können… aber nein, sie gehen mit dem Schlafsack unterm Arm in den Stadtpark und treffen sich dort mit einem Penner.“
„Kein Penner, Herr Doktor, ein höflicher, ein unaufdringlicher Mensch, immer nur halb da, zurückgenommen, eingeschränkte Anwesenheit, sehr erholsam, friedlich, sie ließ mich ruhig einschlafen auf der Bank.“
„Und sind Sie nie einmal in der Nacht aufgewacht?“
„Doch. Er saß auf der Bank gegenüber, dann bin ich wieder eingeschlafen.“

Stadtpark„Dass Sie keine Freunde haben, glaube ich Ihnen nicht, Mellereck.“
„Ich habe Geld, und deshalb keine Freunde. Das ist normal. Es gibt zwei Verwandte, die gegen mich klagen, Sie wissen schon. Einen richtigen Freund hatte ich früher, er kam selten, trotzdem machte er sich zu breit – er erkundigte sich nach meinem Zustand, er erzählte mir von seiner glücklichen Familie, von seinen Kindern und Enkeln und von seinem großen Hund mit schwarzem Fell, den er als sehr treuherzig bezeichnete. Mit solchen Menschen kann ich mich auf Dauer nicht umgeben, verstehen Sie?“
„Hmh … ich versuche es. Aber der Penner…“
„Sagen Sie bitte nicht immer Penner.“
„Na gut, dann eben dieser Mann ohne festen Wohnsitz – der wollte nie Geld von Ihnen haben?“
„Er wusste, dass ich vermögend bin.“
„Mellereck! Dann ist die Frage umso berechtigter.“
„Nein, er wollte nie Geld von mir haben. Aber einmal brachte ich fünfhundert Euro mit, freiwillig, unaufgefordert, in Fünfzigern, zehn Stück.“
„Und?“
„Er nahm sie, er stellte sich mitten auf den Weg und sprach die Vorbeikommenden an. Wollen Sie wissen, was er zu ihnen sagte, Herr Doktor?“
„Ja.“
„Er sagte immer das gleiche zu den Leuten: ‚Ich habe zu viel Geld – darf ich Ihnen fünfzig Euro schenken?‘“
„Da waren die fünfhundert Euro schnell weg, oder?“
„Nein, im Gegenteil, es zog sich länger hin. Viele Menschen gehen da nicht lang, und die meisten laufen, Jogger, wissen Sie, die haben keinen Blick dafür, was um sie herum vorgeht. Einige wollten das Geld auch nicht annehmen, sie reagierten verstört – ein junger Mann zeigte ihm einen Vogel.“

„Wie wär’s mit dem Mettwurstbrötchen? Das sieht gut aus.“
„Ja, mit dem Gewürzgurken-Schnitzen drauf, aufgefächert, ich habe mal zugesehen, wie man das macht, mit einem scharfen Messer – eine ansprechende Dekoration. Das Auge isst mit, Herr Doktor… sagt man. Gewürzgurke passt geschmacklich zu Mettwurst.“
„Nun essen Sie doch endlich ein Brötchen, Mellereck! Es wird Ihnen guttun, Sie sehen ziemlich blass aus.“
„Na gut.“ Mellereck kaut abwesend, er nimmt einen Schluck Kaffee. „Gute Mettwurst, aber der Kaffee ist kalt.“
„Die Pistole hat also der Wohnungslose mitgebracht.“
„Sie war in einen Schal gewickelt, er wickelte sie aus, gab sie mir und ging weg, zur Bank gegenüber.“ Mellereck beißt wieder von dem Brötchen ab. „Schade, dass nur ein Mettwurstbrötchen da ist.“
„Haben Sie dann gleich geschossen?“
„Nein, erst als er wieder ankam. Er stolzierte, ich glaube, er wollte ein Rad schlagen, da habe ich abgedrückt. Er fiel um und war tot – der Pfau ist ein schönes Tier, aber er hat uns gestört, uns beide.“

Daudieck

– seit 1952 als Mensch geführt durchlatsche ich so meine Existenz, ich denke öfter nach, weiß aber nicht, warum, später möchte ich im Altersheim mit bunten Bällen werfen, meine Freundin ist die Tastatur, sie ist geizig, will immer die schönen Sätze für sich behalten – manchmal falle ich einfach über sie her. Ich hab jetzt übrigens einen eigenen Blog, wo ich bisher der einzige Besucher bin - macht trotzdem irgendwie Spaß: deeplooker.com

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