Protagonist A und das defekte Implantat

Am Nachmittag klingelt es an der Haustür. Ich hatte mich gerade zu einem zweiten Mittagsschlaf entschlossen und bin noch leicht benommen, als ich öffne. Ein junges Mädchen steht da. Ich schätze sie auf achtzehn, höchstens zwanzig. Ihre Hose ist grün, ihr Sweatshirt ist blau. Es hat einen roten und einen gelben Ärmel. Sie erinnert mich an ein Sondermodell des VW Polo aus den 90ern im letzten Jahrtausend. Die Umhängetasche, die sie dabei hat, ist ebenfalls bunt. Eine Clownsnase trägt sie aber nicht. Sie ist nur dezent geschminkt und frisiert.

„Ja bitte?“

„Guten Tag. Sind Sie Protagonist A?“

„Bin ich. Was gibt’s?“

„Dürfte ich vielleicht hereinkommen?“

Sie sieht nicht gefährlich aus. Ich habe nichts zu tun. Eine religiöse Überzeugung, für die sie mich gewinnen will, vermute ich nicht in ihrer bunten Tasche. Eher ein Produkt oder eine fabelhafte Dienstleistung.

„Meinetwegen. Kommen Sie.“

Sie geht an mir vorbei. Ich nehme kein Parfum wahr, gar keinen Geruch. Ich kann sie nicht riechen, seltsam. Sie sieht sich um und hält dabei ihren freundlichen Gesichtsausdruck. Unsere Wohnküche ist nichts Besonderes, dennoch sagt sie, sie fände es schön bei mir. Das sagt sie bei allen, da bin ich sicher. Die Küche könnte eine üble, stinkende Müllhalde sein – sie fände sie schön.

„Ja, dann… worum geht es denn?“

„Lieber A, Sie sind ja Mitglied unseres Share-a-View Programms.“

„Ach?“

„Ihr Implantat.“

Jetzt wird mir schlagartig klar, was ihr Aufzug soll.

„Sie kommen von Google.“

„Genau.“ sagt sie, öffnet ihre Tasche und holt eine Flasche und zwei Plastikbecher heraus. „Ich bin hier, um Sie nach ihrer Meinung zu unserem Service zu befragen. Oder falls Sie Kritik äußern wollen, das können Sie mir alles mitteilen.“

Sie öffnet die Flasche, es zischt, dann gießt sie eine gelbe Flüssigkeit in die beiden Becher und reicht mir einen.

„Was ist das denn?“ frage ich und bin jetzt doch etwas misstrauisch.

„Limonade.“

„Google-Limonade?“

„Ja, schön süß. Probieren Sie, Sie werden begeistert sein.“

„Ich nehme an, das ist kostenlos?“

„Ja, natürlich.“ Sie lacht und nippt an ihrem Becher.

Auch ich trinke einen kleinen Schluck. Es schmeckt wie Limonade, nichts Besonderes.

„Ich will Ihnen ja nicht die Show stehlen, aber das ist doch Fanta. Meinetwegen Google-Fanta. Wenn das Ihre neueste Entwicklung ist, dann… nun ja.“

Sie scheint nicht im Mindesten enttäuscht, behält ihren freundlichen Gesichtsausdruck bei und nimmt mir den Becher wieder ab.

„Wenn es Ihnen nicht gefällt… wir arbeiten aber auch an anderen Dingen. Nun zu Ihrem Implantat. Was sagen Sie nach den ersten Monaten?“

„Es…“

„Ist es nicht wunderbar, nicht mehr mit einem Rechner oder einem Mobile Device hantieren zu müssen?“

„Ja, ich…“

„Und immer online sein zu können, wenn Sie es wollen?“

„Durchaus.“

„Dann darf ich Sie als zufriedenen Kunden melden?“

Es scheint keinen Sinn zu machen, eine wirkliche Unterhaltung mit ihr führen zu wollen. Na dann:

„Möchten Sie einen Apfel kaufen?“ frage ich.

„Was?“

„Nichts. Sind Sie fest angestellt?“

„Fragen zu unserer Person dürfen wir grundsätzlich nicht beantworten, tut mir leid.“

Ganz kurz flackert ihr Lächeln.

„Dann sind Sie… ach was. Tja.“

„Vielen Dank für Ihre Zeit, Protagonist A. Und weiterhin, viel Spaß.“

Wünscht sie mir, steckt Flasche und Becher wieder in ihre Tasche und verschließt sie sorgsam. Ihre Bewegungen sind bedächtig und erinnern mich an die Routine eines Priesters bei der Bereitung des Abendmahls. Dann geht sie zur Tür, streckt mir unterwegs die Hand hin, grüßt und ist verschwunden.

Am Abend beginnen leichte Kopfschmerzen. Während ich fernsehe, flackert kurz etwas in meinem Sichtfeld. Dann, eine halbe Stunde später ist plötzlich mein Implantat wieder aktiv. Statusmeldungen werden eingeblendet, ich sehe die Netzstärke der nahen WLANs, das D5 und D6 Telefonnetz und verschiedene andere Kommunikationsströme, an die ich jetzt wieder angebunden werde. Damit erklärt sich der Besuch. Diese hinterhältige Schlange hat mir Nanobots verabreicht, die das Implantat repariert haben und danach durch den Blutkreislauf in die normalen Ausscheidungen wandern. Von wegen Limonade.

Manchen Dingen kann man sich einfach nicht verschließen. Sie finden statt, mit oder ohne uns. Da ist es doch besser, man gehört zur Avantgarde, geht mit der Zeit und lernt frühzeitig, die Technologie einzubinden in… alles. Ich sage mir das ein paarmal vor. Es funktioniert nicht.

Ich hatte die Ruhe so genossen.

Martin Wessely

* 1971, studierte nach dem Abitur und war in den letzten Jahren in verschiedenen Positionen im internationalen Dienstleistungsmarketing tätig. Über den beruflichen Umgang mit Sprache hat er seine Leidenschaft für das Schreiben entdeckt. Er lebt und arbeitet in Köln. Aktuelles Buch: 'bipolar. Die Verteidigung der Mitte' (Ch. Schroer, 2012).

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