Über das Gute
Ich sitze zuhause, ich sitze zuhause im Sessel und lese. Ich lese ein Buch, ein gutes Buch über das Gute. Ich lese und lese, und zuletzt glaube auch ich, ich, der Gläubige, der Bekehrte, ich glaube an das Gute: zu Lande, zu Wasser und in der Luft. Und schon lese ich nicht mehr. Auch den Sessel und das Zuhause lasse ich hinter mir, denn mein Weg führt mich zur Arbeit, zu meinem Büro, zu meinem Schreibtisch. Das Gute habe ich mitgenommen, wie einen Hund; es weicht mir nicht von der Seite, bis mich jemand um etwas Kleingeld bittet, ein stinkender Jemand, ein alter, häßlicher, lumpiger Jemand, ein gewisser Jemand, mit dem ich nichts zu tun haben will. Das Gute bekommt einen Tritt, wie ein Hund, der mir im Weg steht, es bekommt einige Kratzer, als ich die Bitte des Bettlers überhöre und ihn links liegen lasse. Doch schon ist es wieder da, das Gute, treu wie ein Hund; es blickt mich von unten herauf an und wedelt mit dem Schwanz, als ich im Bus meinen Sitzplatz einem Rentner anbiete. Ich fühle mich wie ein beflügelter Samariter, wie ein Ritter ohne Furcht und Tadel, dem Guten sei Dank. Doch kaum bin ich bei der Arbeit, kaum bin ich im Büro, am Schreibtisch, da verflüchtigt sich das Gute wie ein Traum, es verblaßt wie eine schöne, aber ferne Erinnerung, wie eine Urlaubserinnerung. Mit den ersten Demütigungen des Chefs streicht es die Segel, mit den ersten Witzen der Kollegen macht es sich aus dem Staub, Demütigungen und Witze, die ich wie immer ohne Widerstand, ohne Widerspruch hinunterschlucke.
Das Gute geht zugrunde, denke ich auf dem Heimweg, es ist wie ein Hund, der vor die Hunde geht, denke ich und trete einen Köter, einen, der es wagt, vor meinen Augen an einen Baum zu pinkeln, allein, ohne Schutz, ohne Schirm seines Herrn. Ich trete einen kleinen Köter, vor großen fürchte ich mich, ebenso vor Hundeherren. Das Vermögen, meine Schwächen, in diesem Fall meine Feigheit und meine Furcht, ebenso wie meinen Frust und meine Wut zu sehen und mir einzugestehen, geben mir ein gutes Gefühl. Und schon ist das Gute wieder da, schöner und strahlender als zuvor. Es klopft mir auf die Schulter, es küßt mir Füße und Hände, obwohl ich im Traum nicht daran denke, mich jemals auch nur ein Stück weit ändern zu wollen. Furcht und Feigheit, Frust und Wut gehören zu mir, seit meiner Geburt, seit viel zu langer Zeit. Warum sollte ich mich ändern? Warum bin ich Anarchist? Doch nur darum, damit ich tun und lassen kann, was ich will! Ich habe ein gutes Gewissen, eines mit einem guten, gesunden Schlaf, ich habe ein Gewissen, das selbst dann nicht aufwacht, wenn im Fernseher Kriege wüten, wenn ganze Völker an Seuchen krepieren, vor Kälte, vor Hitze, vor Hunger und Durst. Mein Gewissen wacht erst dann auf, wenn es um mich geht, wenn mir etwas nicht paßt, wenn es gar zu arg wird mit der Ungerechtigkeit, mit dem Neid und dem Haß, mit der Gier und der Bosheit der anderen, dann ist mein Gewissen hellwach, dann ist es Zeit, hohe Zeit zuhause zu sitzen, zuhause im Sessel mit einem guten Buch, mit einem Buch über das Gute…