Death Junkies

Sie lieben den Tod. Oder das, was er mit sich bringt. Diesen Kick. Flash im Gehirn. Innere Erfahrung.

 

Keith lehnt sich zurück und träumt noch mal sein Leben. Es rast an ihm vorbei wie ein Güterzug. Nichts davon ist konstant. Nichts wird wiederkehren. Es ist der einmalige Rausch. Jedesmal neu. Immer anders.

 

Auch Vicky hat nichts mehr zu verlieren. Sie hat keine Angst vor dem zeitweiligen Tod. Nichts kann schiefgehen. Eigentlich kann nichts mehr schiefgehen. Aber sie hat keine Angst vor dem Tod. Mutig starrt sie in die Hypno-Öffnung, läßt sich einlullen. Sekunden später Schlaf. Sekundenschlaf. Ähnlich wie Keith sieht sie ihr Leben aus einiger Distanz. Wie ein Film läuft es ab. Nichts Neues. Keine andere Erfahrung. Kein Grund, um ‘close’ zu werden. Sofort danach schaltet sie ab, unbefriedigt. Sie kehrt um, geht den virtuellen Weg zurück, wacht auf und reklamiert.

 

Sie und einige andere nennen sich ‘death-junkies’. Nichts kann sie stoppen. Ihr Wille und ganzer Trieb ist der eigene Tod. Das ist das schärfste. Wenn Du merkst, Du bist tot, doch sie wecken Dich auf, Du weißt, daß sie Dich aufwecken, immer wieder. Dann lebst Du. Und willst sofort wieder abkratzen. Das Ganze ist eine Sucht. Nur was für Reiche. Wer kann es sich sonst leisten, für fünf Sekunden Tod das hunderttausendfache zu bezahlen? Nur die wenigsten. Die Kinder der Reichen. Die ohne Hoffnung. Ohne Zukunft.

 

Ihr Leben ist der Tod. Dafür arbeiten sie, und verbraten ihr Taschengeld. Nichts ist ihnen heilig, denn das Leben ist nur ein großer Schein. Das wissen sie alle, und sie wollen es beweisen. Es der Welt beweisen. Durch sich selbst. Durch ihren eigenen Tod.

 

‘Leichen sind verwerflich – doch der Tod bleibt immer’. Ihr Motto klingt wie altreligiöse Fanatismen. Doch sie sind nicht schlimm. Sie vernichten nur sich selbst, ihr eigenes Leben. Sie sind nicht gefährlich. Wären sie gefährlich, müßte man ihnen ihr Hobby verbieten. Oder ihnen mal zuhören.

 

„Yeah… das ist sooo geil!!!“ Keith schreit in Trance. Der Zug fährt immer noch. Aus jedem Fenster glotzt ein anderes Gesicht. Alles Leute, die er in seinem Leben wohl gesehen, aber noch nie gekannt hat. Auch Freunde sind darunter.

 

Vicky wartet indes auf ihren Freund. Wann ist der endlich fertig? murmelt sie ungeduldig. Das dauert ja ewig. Verdammt, was’n Flash. Davon wird er mindestens vier Tage leben. Sie – sie kommt wahrscheinlich schon morgen wieder. Bei so ‘nem unbefriedigenden Flash muß man einfach wiederkommen. Um noch einen Verusch zu starten. Und nochmal zu sterben.

 

Am Anfang ist das wie mit jeder Droge. Du nimmst sie, gehst immer wieder zu Deinem Dealer, läßt Dich partikelweit ins Jenseits schicken, über die Grenze des Lebens hinaus. Dann geht’s Dir gut. Erstmal. Für ‘ne kleine Weile. Danach merkst Du, daß sich in Deinem Leben etwas verändert. Nicht alles ist so wie vorher. Du siehst die Welt mit anderen Augen und merkst, daß etwas fehlt. Und dann – plötzlich – geht Dir ein Licht auf: Du weißt, daß Du den Tod schon die ganze Zeit vermißt hattest. Es war Dir nur nicht so klar gewesen, so klar wie jetzt – nachdem Du Dein Unterbewußtsein umgekrempelt hast. Der Flash hat alles ans Licht geführt. Du mußt es erkennen, willst es auch erkennen, und du erkennst es. Keine Ausweichmöglichkeit. Kein Weg führt zurück. Du wirst wiederkommen. Wieder und wieder. Der Tod hat Besitz von Dir ergriffen.

 

Wie gesagt, am Anfang ist es noch wie mit jeder anderen Droge. Man probiert sie aus, wird vielleicht auch abhängig. Doch beim Tod stellt sich mit der Zeit so ein Gefühl ein – unbeschreiblich. Totale Macht. Macht über Leben. Über Dein Leben. Das macht Dich immer wieder close – und wenn der Flash gut ist, macht er Dich noch viel closer. Das ist Dein Heroin.

 

Open up.

 

Es ist vorbei. Endlich. Keith schüttelt sich nochmal den Kopf und guckt gläsern aus der Wäsche. Leder trägt er heute, schwarz. Das gefällt Vicky besonders gut. Sie nimmt ihn an der Hand, spürt schwache Wärme durch den Handschuh gleiten, und spaziert mit ihm hinaus. Die Nacht ist grau wie immer. Keine Veränderung. Und doch ist heute etwas passiert. Sie läßt sich von ihm umarmen. Was er sagt, hört sie nicht. Er lebt – das ist wichtig.

 

Wie oft wird das wohl noch so sein?

Sven Klöpping

Sven Klöpping wurde 1979 in Herdecke/ Westfalen geboren, absolvierte eine Ausbildung zum Juniortexter in Münster, Koblenz und Frankfurt, war gern in Dortmund und lebt heute im Schwarzwald. Er veröffentlichte zahlreiche Kurzgeschichten und ist Herausgeber von www.lyrikonline.eu. Aktuelles Buch: Menschgrenzen

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