Ordo
Die Filmkamera wackelt ein wenig, sie zittert in der Hand des Polizisten, trotz all des Trainings, trotz all seiner Routine. Kaum auszudenken, was alles passieren, was aus dem Ruder laufen kann, Unvorhergesehenes, Unwägbares … Risiken schweben über ihnen, über den Helmen des Sonderkommandos, Risikoreste in Engelskostümen, Sensen wetzende Todesengel, auf reiche Ernte hoffend, trotz aller Planung, trotz allen Trainings, aller Routine. Sie stehen vor einem Hauseingang, der Kameramann und seine Kameraden, sie schwitzen in voller Montur, in ihrer schönen schwarzen Uniform, die der Einsatzleiter eben wegen ihrer Schwärze den Ehrenrock der SS nennt. Sie stehen vor einer Vorortvilla, vor der Tür eines Mächtigen, eines ganz hohen Tieres; teure Rabatten sterben stöhnend unter ihren schweren Stiefeln, sie stehen da, Gewehr und Rauchgranaten im Anschlag und warten auf den Befehl des Einsatzleiters, sie warten auf den Befehl zum Losschlagen …
Die Sekunden verrecken in langem, zähem Todeskampf, sie kriechen mit den Schnecken die Rabatten entlang, eine Ewigkeit voller Anspannung und Konzentration … Endlich das ersehnte Zeichen, über Funk, der Zugriffsbefehl aus dem Kommandobus, scharf und schneidig wie ein Schwerthieb, einem Aufschrei ähnlich, einem befreienden Aufschrei. Türen und Fenster öffnen sich wie durch Zauberhand, klirrend und krachend, Splitter fliegen durch Raum und Zeit, Rauchgranaten treten ihren Dienst an, sie entfalten sich Frühlingsblumen gleich, sie verhüllen die Räume der Villa wie Novembernebel Wald und Wiesen, sie tun ihren Dienst, indem sie den ins Haus stürmenden Polizisten Schutz und Deckung geben.
Nachdem sich der Nebel gelichtet hat, kommt ein Körper in den Fokus der Kamera, erst ein Körper und dann noch einer, ersterer, von Polizeikugeln zerfetzt, in Putzfrauenuniform auf der Rückenlehne einer Ledergarnitur, offensichtlich in den letzten Zügen liegend, und dahinter, unversehrt wie eine Jungfrau, ein Körper in der Uniform eines Großkapitalisten, offensichtlich der Hausherr, der seine ganze Aufmerksamkeit darauf ausrichtet, seine Fortpflanzungsantenne aus dem zerfetzten Körper herauszuziehen und sie vor dem Zugriff Dritter zu schützen.
Und schon steht der Einsatzleiter einer aufgehenden Sonne gleich in der Tür. Haben Sie alles im Kasten? schreit er den Kameramann an und setzt auf dessen Nicken hin hinzu, dass der Film bereits verkauft sei, es werde ein Lehrfilm des Finanzministeriums zur Abschreckung gegen Schwarzarbeit. Dem Hausherrn dankt er für den Hinweis. Ohne seine Hilfe hätte die Tatverdächtige so weiter gemacht wie bisher, mit unabsehbaren Schäden für die Volkswirtschaft. Dann zieht er den Denunzianten dezent zur Seite und klärt ihn – eine Hand wäscht die andere – über eine geplante Razzia der Kollegen Steuerfahnder auf. Er, der Hausherr, solle zusehen, sein Vermögen ins Ausland zu retten.
Während die Frau vor laufender Polizeikamera im Sterben liegt, ziehen die Höhepunkte ihres Lebens einem Totentanz gleich an ihr vorüber. Den Reigen führt ihr Vater an, von einem Überfall gezeichnet, ein Zombie, dem seine dunkle Hautfarbe zum Verhängnis wurde. Dem Vater folgt ein ehemaliger Mitschüler, den sie Jahr für Jahr durch die Prüfungen geschleppt und der nur dank ihrer Hilfe das Abitur geschafft hatte, ein gehässiger Idiot, den die Lehrer stets weit besser als sie benoteten, obwohl alles, was er schrieb und sagte, von ihr stammte. Vielleicht hing das damit zusammen, dass er der Sohn eines Mächtigen, eines ganz hohen Tieres war. Und sie musste ihm helfen, sie hatte keine Wahl, denn ihre Mutter putzte im Haus des hohen Tieres, sie säuberte seine Villa jahrein jahraus, sie säuberte sie von all dem Dreck der Welt, der dort seine Heimat, seinen Hort gehabt zu haben schien. Der nächste im Reigen, der vor der Sterbenden vorüberzieht, ist eben jener Mitschüler, der Idiot, nur ein wenig älter, mit seinem zu einer Grimasse verzogenen Gesicht, über ihr, auf und in ihr, stöhnend und schwitzend, während ihre Mutter nebenan putzt und putzt … Und dann kommt der Hausherr ins Bild, der letzte im Reigen, ein stinkender, schnaufender Fleischkoloss, der ihre Mutter gegen sie als Putzfrau austauschte und sie sich mit seinem Sohn, dem Idioten teilte. Und dann sieht sie den Koloss zum Hörer greifen, zum Telefonhörer, um seine Kontakte zur Polizei zu pflegen; tags darauf sollte sie ihren Lohn bekommen, er sagte, diesmal wolle er endlich zahlen, für sie und ihre gemeinsame Tochter …
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Rüdiger Saß:
Das nervöse Zeitalter: oder Literatur zum Kilopreis