Die Lungenpest

The World is Temporarily Closed

Es dämmerte bereits, als ich von einer Klettertour in den hygienischen Bergen in meine Schmutzhütte, ins Hotel Mangelhaft & Ungenügend zurückkehrte. Ich ließ es mir beim Apres-Ski an der Hotelbar schmecken, obwohl es dort zu sehr nach dicken Eiern stank: nach Ausbeuternaturen, die ihre Peitschen und Pfeifen, mit denen sie ihre Lohnsklaven antreiben, nicht zuhause lassen konnten. Auf der Tanzfläche kam ich Aerosola und ihrem Bulimie-Body näher; wir drehten uns zu den Schunkelschnulzen der Hotelcombo Die Steifen Brisen. Später drehten wir uns im Bett …

Lärm auf dem Flur und vor dem Fenster scheuchte uns aus dem Schlaf. Die Hotelgäste suchten das Weite, und sie suchten es in Eile. Es hatte sich die Nachricht wie eine Geschlechtskrankheit verbreitet, wonach die hygienischen Berge wegen eines um sich greifenden Virus von der Außenwelt abgeriegelt werden sollten. Mit den Flüchtlingen reisten Siechtum und Tod in alle Welt, und das Hotel Mangelhaft & Ungenügend machte sich als Seuchenhort einen Namen, als lodernder Ansteckungsherd. Da ich noch etwas anderes vorhatte, als unter Quarantäne zu stehen und Däumchen zu drehen, floh auch ich Hand in Hand mit Aerosola die hygienischen Berge.

Schon bald war das Virus in aller Munde. Und es dauerte nicht lang, und die ganze Welt stand still, wie eingefroren, wie unter einer großen Käseglocke. Niemand durfte aus dem Haus, niemand außer sogenannten Systemrele-Wanzen, es sei denn, der Weg führte zum Kaufgewölbe oder zum Laufrad, zur Tretmühle. Die Kramgewölbe glichen Landschaften, über die Heuschreckenschwärme hergefallen waren. Es wurde gehortet, es wurde gehamstert, es wurden Vorräte angelegt: allem voran an Klopapier, da Klopapier Gefühle von Sicherheit und Geborgenheit verleiht … und der Seele Flügel. Man denke: Die Teutonen ließen – vorerst – ihren Fetisch: ihre Autos, stehen. Die Teutonen standen an den Fenstern und notierten sich die Nummernschilder ortsfremder Autofahrer, um sie bei der Obrigkeit zu melden; denn über Nacht wurden alle Grenzen geschlossen: nicht nur die zwischen Staaten, sondern auch die zwischen den Provinzen eines Landes, zwischen Stadt und Land. Über Nacht herrschte finsterste Kleinstaaterei!

Mir sollte es recht sein. Endlich einmal Ruhe auf den Straßen … und so etwas wie frische Luft, endlich einmal wurden die Ameisenmenschen in ihrer übertriebenen Betriebsamkeit gebremst, endlich einmal wurden diese Lebensflüchtlinge auf sich selbst zurückgeworfen.

Ich hatte keine Angst, mir konnte nichts passieren. Ich durfte einfach nicht verrecken, denn dann hätte es einmal den Richtigen erwischt. Doch ich durfte den Schwarzen Tod auch nicht herausfordern, und so fing ich damit an, die Hände zu waschen und mich nur kopffrontverschleiert unter die Leute zu mischen. Und ich musste meine Finger unbedingt aus dem Gesicht bekommen. Aber sag das mal dem Landesvize im Preispopeln! Und ich tat, was alle anderen auch taten: Ich hortete Klopapier und Desinfektionsmittelchen, spähte zum Fenster hinaus und notierte die Nummernschilder Ortsfremder …

… und ich fuhr mit dem Rad hinaus ins Freie, ins Weite, aufs Land. Alle anderen taten das auch. Das Volk hatte nicht die Gesundheit im Allgemeinen entdeckt, sondern seine Gesundheit im Besonderen. Also machte sich das Volk in Scharen auf und überflutete Wald und Flur. Wie Gülle! Allen voran Flüchtlinge, Laufkundschaft, Laufburschen (männlich, weiblich), neudeutsch vernebelnd Jogger genannt, die vor alles und allem wegliefen, vor allem aber vor sich selbst und die von Geflüchteten unterschieden werden sollten: Flüchtlinge sind auf der Flucht, Geflüchtete haben sie bereits hinter sich. Da liefen unter anderen Leute, hinkende Hindernisse, umher, die viel eher im Rollstuhl sitzen sollten, und forsche, fidele Gehwagenrentner schlossen sich zu regelrechten Gangs zusammen; hier und da huschten Kräuterhexen über pferdeapfelübersäte Feldwege, und räudige Radfahrer sorgten mit sozialdarwinistischer Rücksichtslosigkeit für ständige Unfallgefahr: nebeneinander her hetzende, die ganze Fahrbahnbreite beanspruchende Unzeitgenossen, deren Stimmbänder mit jeder Schwingung hinausposaunten, dass sie die mit Abstand dicksten Eier weit und breit besäßen … und da war zu allem Überfluss die Lady mit dem Regenschirm in der Schulter. Keifend und gestikulierend stakste sie einher, und es war nicht auszumachen, wem sie ihre Kraftausdrücke an den Kopf warf: einem leibhaftigen Telefonpartner oder den Schemen und Chimären ihrer Phantasie.

All dieser übertriebenen Betriebsamkeit bot die Natur oder das, was gewinnmaximierende Menschen von ihr übriggelassen hatten, die Stirn: Felder, Wälder und Wiesen rührten sich nicht von der Stelle, obwohl ich es ihnen nicht verübelt hätte, wenn sie das Weite gesucht hätten; die Bäume rauschten und räusperten sich hin und wieder, auf den Koppeln faulenzten die Pferde und auch die für ihr südländisches Temperament und ihre Leidenschaft so berühmten Kühe konzentrierten sich ganz und gar auf ihre Yogaübungen.

Die Seuche zog also nicht nur Vorteile aus dem Köcher. Ein recht windiger Tag: flieg, Virus, flieg! In mir reifte das zarte Pflänzchen einer Geschäftsidee, mir schwebten mittelalterliche Pestmasken vor Augen, Schnabelmasken, welche mit antiseptischen Hausmittelchen zu füllen wären, mit Hundekacke, Katzenkotze, mit schimmelnder Melone … Ich sage es ja immer wieder: Auch Arschlöcher wie ich können mal an einen guten Tag geraten.

 

Das Leben wechselte sein Gesicht: ruckartig, von einem Augenblick zum andern. Es war, als wenn man aus einem Alptraum aufschreckt, und der Alptraum geht weiter: Eine Nachbarin schabte auf dem Balkon gegenüber den Schädel eines Menschen aus. Sie ließ es sich schmecken. Danach blies sie auf einer imposanten Blockflöte herum: einem präparierten Oberschenkelknochen. Instinktiv prüfte ich Anzahl und Vollständigkeit meiner Beine. Dann verließ ich das Haus, um mich auszulüften und dem Volk auf die Finger zu schauen.

Verglichen mit der Lungenpest ist die Automobilpest um ein Vielfaches verheerender. Was andere Straßenverkehr nennen, bedeutet für mich Krieg, ein einziges Hauen und Stechen. Es waren schon wieder alle auf den Beinen, alle Autos waren schon wach … und es gingen auch schon wieder alle Gassi: Laufkundschaft, Wildwechsel, dann und wann eine Hundenarr-Smombi-Kombi: eine Smombie-Mama mit Kinderwagen und Köter … Eins scheint sicher: Mittlerweile bevölkern mehr Hunde als Ratten die Stadt. Was denken und fühlen vierbeinige Kotkanonen, wenn ihre Narren die Granaten, die sie gerade abgefeuert haben, auflesen und in einem Plastikbeutel ein gutes Stück weit spazieren tragen? Was auch immer, ich denke, sie sind reif für eine Psychotherapie, und sei es bei der telefonischen Zeitansage.

In der Warteschlange vor einer Kaufhauskasse lebte sich mein Hintermann, ein Barbar mit breiter Birne und breitem Bregen, aus. Er furzte und rülpste die Schicksalssymphonie. Dann schrie er: „Ich bin der Schwarze Tod.“ Ich wusste nicht, ob es Glück oder Unglück war, dass ich keine Distanzwaffe bei mir hatte und zweifelte, genug Kraft für einen Zweikampf zu haben. Da wir bereits wissen, was der Barbar von Anstandsregeln hielt, erstaunt es nicht, dass er auch die Abstandsregeln nicht befolgte. Der Schwarze Tod stand hinter mir. Der Pesthauch seines Atems versengte meine Nackenhaare. „Entspannt euch, ihr Krampfadern!“, grölte er und: „Lang lebe die Krise!“

Ich für meinen Teil suchte mein Heil in der Flucht. Ich ließ meinen Einkaufswagen im Stich und nahm die Beine in die Hand.

Erst in der Bäckerei Rückruf holte mich mein Bewusstsein wieder ein. An der aufgeregten Kaffeetheke geriet ich unter die Dusche eines tröpfcheninfektiösen Gekeifes, welches nach einer in Seenot geratenen Seekuh klang und der Lady mit dem Regenschirm in der Schulter gehörte. Da gab es keine zwei Meinungen: ihre Aerosole zielten auf mich. Sie keifte, dass sie mich nicht, nicht mehr liebe, und in ihrem Blick flackerte die Verachtung der Verachteten. Und es werde ein Unglück geben, ein großes Unglück, wenn ich ihr ferner nachstellen sollte. Keifte es und ging, wobei ihr kontinentaler Hintern einen gewaltigen Sog entwickelte, der die aufgeregte Kaffeetheke noch mehr durcheinander brachte. Brote und Brötchen wirbelten durch die Luft, Sahnetorten sackten in sich zusammen … Als der Sturm nachließ, fielen Kraftausdrücke vom Himmel, die die Lady zurückgelassen hatte: Fickfehler und Pissgeburt und und und …

Nachdem ich die noch immer aufgeregte Theke geradegerückt und dann der Tür ins Gewissen geredet hatte, erdete mich der Alltag. Auf der Straße hatte sich nichts verändert. Wohin man auch blickte: fahrende Fetische, Laufkundschaft und auf den Hund Gekommene. Nun, es waren weniger die Hunde als die daran hängenden Narren, die mich nachdenklich stimmten, so viele große Egos auf engem Raum, dass man kaum noch Luft bekam. Die Leute irrten ihre Lebenswege entlang, rannten gegen Bäume und Häuser, rempelten sich gegenseitig aus dem Weg, fielen in Baugruben, in Straßengräben und strampelten und zappelten wie hilflose Käfer … Und alle einte eins, alle, ob Rentner-Radregimenter, die sich wie Särge auf ihren E-Bikes ausnahmen, ob Laufkundschaft oder Autofetischisten, alle waren verkabelt und vernetzt, alle waren on line.

Nach jedem Spaziergang brauchte ich einen Therapeuten und Medikamente, deren Packungen von Totenköpfen dominiert werden. Doch ich hatte weder Therapeut noch Medikamente, ich konnte nur auf Alkohol, den Tröster der Armen, zurückgreifen. Aber immerhin, die Schmerzen schwanden, die Striemenschmerzen auf Herz und Hirn. Doch gingen mir die Menschen nicht aus dem Kopf, Verbrecherfressen, bei denen nur zu hoffen blieb, dass sie ihre Kinder nicht fickten, nicht verkauften, noch prügelten oder sich selbst überließen …

Und dann klingelte es auch noch an der Tür. Es war der Winkelheiler Dr. Wackeldackel, mein Therapeut aus besseren, lichteren Tagen. Und neben ihm winkte Konfetti Klößler, Puddingpräsident und Frühstücksdiktator in Personalunion. Ich wusste, beide waren längst verstorben, Todesursache: schlechter Geschmack. Sie lebten zu jener Zeit, als die Fahrkartenautomaten noch aus Fleisch und Blut bestanden, stotterten und auf Namen wie Köterpeter oder Peterköter hörten. Die beiden Zombies hatten schon zu Lebzeiten nicht gut ausgesehen. Sie drängten sich durch die Tür in Richtung Kühlschrank.

„Das ist für mich“, rief Konfetti Klößler, als die Türklingel wiederum von sich hören ließ. „Nein, für mich“, schrie mein Ex-Therapeut und folgte dem Puddingpräsidenten in den Korridor. Die Überraschung war perfekt, als die beiden mit zwei Gästen in die Küche zurückkehrten, die mir noch wie Stacheln in der Seele steckten: der Barbar mit breiter Birne und breitem Bregen und die Lady mit dem Regenschirm in der Schulter. „Ist er das?“, fragte Der Schwarze Tod, und auf ein Nicken der Lady hin sagte er, er sei die zweite Welle, er käme mit Macht und könne sich mich sehr gut als Unfallopfer vorstellen. Er furzte und rülpste die Schicksalssymphonie. Dann sprang er mich an wie eine Raubkatze und … und drückte mir die Kehle zu. Man konnte dem Schwarzen Tod alles absprechen, Leidenschaft und Temperament allerdings nicht. Und dann fiel es mir wie Schuppen von den Augen, deren Blick allmählich zu brechen begannen, denn als sich die Lady über mich beugte, um meinem Sterben so nah wie möglich zu sein, sah ich, dass es sich um niemand anders als um Aerosola, ihrem Bulimie-Body und den Rachedurst einer verschmähten Liebe handelte. Ich hatte die Lady, kaum dass wir den hygienischen Bergen entronnen waren, wie ein lästiges Haustier an einer Autobahnraststätte vergessen. Und ich wusste, dass in der instabilen Rückenlage, in der ich mich befand, jede, aber auch jede Ausrede, jede Entschuldigung wie Tropfen auf heißem Stein verdampfen würde. Aerosola spuckte mir ihre ganze Verachtung ins Gesicht, und sie nannte den Barbaren Bruder, sie hieß ihn Aerosolo und feuerte ihn an. Dr. Wackeldackel und Konfetti Klößler focht meine Not nicht an. Sie waren ganz und gar auf die Plünderung meines Kühlschranks ausgerichtet, als der Wackeldackel dem Puddingpräsidenten in die weiche Seite knuffte und wuffte: „Stell dir vor, mir ist schon wieder die Lady mit dem Regenschirm in der Schulter über den Weg gelaufen!“

Rüdiger Saß

geboren 1966 | Wohnhaft in Hamburg | Soziologe | zuletzt erschienen: Neues von der Heimatfront (Roman). Bench Press Publishing, 2008. Siehe auch www.myspace.com/leereimer - Noch zu haben: Nachtstühle - Erzählungen und Prosa

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