Praxis Dr. Bellows

Das Wartezimmer ist so still wie seine Tapeten. Gelegentlich treibt ein Klangfetzen durch eine verschlossene Tür, ein gekipptes Fenster. Beiläufig beruhigen Bilder unbedeutender Maler das stille Weiß der Wände. Auf einem Tisch aus Plexiglas mit einigen abgestoßenen Kanten buhlen Magazine schweigend um Faktenfreier. Von 21 Stühlen sind 11 besetzt. Die Personen kennen ihre Namen nicht.

Hitler: Ganz schön viel los.
Gandhi: Ja. Ich warte schon seit kurz nach acht. Ich war extra früh aufgestanden, um der erste zu sein. nun bin ich hungrig wie ein… (wird blass)
Jon: Alles in Ordnung?
Gandhi: Bestens. Nur: Mein Leiden hat mit Essen zu tun.
Elvis: Für mich nicht nachvollziehbar, angesichts des…
Gandhi: Und mit zu vielen Vorträgen, auf denen ich nichts zu sagen habe.
Einstein: Kenn ich. Ich bete halt den alten Käse runter. Lernt heute ja jeder schon in der Klippschule. Die wissen genau, was sie hören wollen.
Gandhi: Was machen Sie?
Einstein: Ich studiere noch… und Sie?
Gandhi: Management Consulting.
Hitler: Möchten Sie einen Genussriegel für den Blutzuckerspiegel?
Gandhi: Absolut nicht, danke.
Einstein: Vergessen Sie das Absolute. Alles ist relativ.
Jon: Wie bitte?
Einstein: Vergessen Sie’s. es ist ohnehin der häufigst zitierte Quark der Menschheit. So was wird nicht wahrer, wenn P.M. es auf dem Titel bringt.
Nietzsche (hüstelnd): Das sehe ich anders. Die Sache mit der Peitsche, also …
Einstein: Ach gehen Sie mir doch mit Ihrer Peitsche!
Jesus: Ich denke, wenn es um häufiges Zitieren geht, hab ich ja wohl auch ein Wörtchen mitzureden.
Einstein (mit siebdruckfarbener Einstein-Zunge stichelnd): Gott würfelt nicht, hähä. Oder doch?
Nietzsche: Gott ist tot. (gluckst)
Hitler: Wovon sprechen Sie eigentlich?
Einstein (jetzt ernst): Wie alt sind Sie?
Hitler: Ich werde morgen volljährig. Endlich weg von Zuhause. Aber ich verstehe nicht, was hat das…
Nietzsche: Ha! In Ihrem zarten Alter habe ich angeblich schon…
Beethoven: Sie werden verstehen, wenn Sie Ihre Sitzung hinter sich haben. Und nach der Sitzung gehen Ihre Probleme erst los!
Jon: Sitzung?
Beethoven: Plattenfirmen, pah! woher soll ich zum Beispiel wissen, wie die 10te…

Eine Tür schwingt auf. Eine sympathische, junge Frau in blendend weißer, ozeanfrisch oder bergfrisch duftender Kochwäsche blättert in einer Kartei und murmelt Jon Does Namen. Jon steht auf und folgt der jungen Frau in das Zimmer.

Hinter einem ungeheuren Schreibtisch thront der ältere Orson Welles, vollbärtig, mit glitzernden Augen, ein paar unverblümten Tränensäcken, einer Zigarre und einem dröhnenden Bariton. Aus einem Radio plätschert die Filmmusik zu ‚pi‘, zwischendurch Werbung für Radio-Werbeblocker.

– Doktor Bellows?
– Herr Doe. Schön, schön. Äh. Wie geht es Ihnen?

Jons Fistelstimme klingt wie die Antwort einer Piccoloflöte nach der Frage einer Tuba.

– Kann nicht klagen.
– Noch nicht. Äh.
– Wie?
– Nichts, nichts. Äh. Schön schön…

– Also, was führt mich zu Ihnen?
– Nicht viel. Nur Ihre Niere und…
– Meine Niere ist voll in Ordnung, Herr Doktor. Arbeitet effektiv und klaglos. Ein vollwertiges Mitglied meines Körpers.
– Ja ja, Herr Doe, Ihre Leber auch, dass wissen wir, wir bekommen ja täglich Ihre Urinwerte von den Stadtwerken. Völlig in Ordnung, keine Abweichlerei.

Dr. Bellows spielt zerstreut mit einem zerlegbaren Kopf. Dessen Hirnregionen sind eingefärbt und mit den Kategorien des Denkens beschriftet. Echtes Plastik oder nur plastiniert?, denkt sich Jon Doe, bis der Doktor fortfährt.

– Es ist nur so…
– Ja?
– Der Spender ist des Mordes schuldig gesprochen worden.
– Na und? Er ist doch längst tot.
– Nicht ganz, wenn ich Sie erinnern darf. Ihr linker Arm, Ihre Leber und eine Ihrer Nieren sind voll schuldfähig.
– Wie bitte?
– Sie sind zu 18 Prozent ein verurteilter Mörder, Herr Doe.
– Entschuldigen Sie meine Offenheit, aber: Haben Sie noch alle?
– Sie brauchen nicht ausfällig zu werden, Herr Doe.
– Brauche ich nicht? Sie versuchen mir gerade zu erzählen, ich sei ein teilweise verurteilter Killer!

Jon nimmt ein Tempo-Taschentuch aus der Brusttasche seines Lacoste-Poloshirts und wischt sich über den Barcode der Stirn. Dr. Bellows nimmt ein Kleenex aus der Brusttasche seines Tommy-Hilfiger-Poloshirts und wischt sich über die Herpesbläschen seines Mundes.

– Was denken Sie, wie schlimm das für mich ist? Früher waren Sie mal Referenzkunde, jemand, auf den man stolz sein konnte. Heute dagegen…
– Was? Was? Was?
– Denken Sie nur an die sensationslüsternen Schmierer von der Presse! Foto, ich vor einem Aktenschrank, Bildunterschrift: ‚Die Verbrecherkartei des Dr. Bellows!‘
– Also bitte! Wegen einem fünftel krimineller Organe?
– Tja, die Welt ändert sich, Herr Doe.

Vom Gang her dringt Lärm zu Ihnen. Dr. Bellows steht auf, rumpelt zur Tür, reißt Sie auf, donnert ein ‚geht’s vielleicht auch etwas zivilisierter!?‘ durch den Rahmen, rummst die Tür wieder zu und verbarrikadiert sich wieder hinter seinem Schreibtisch. Starrt in Jons Kartei.

– Wie auch immer, Herr … Doe. Wenn es nur das wäre … alles wäre einfach. Der Grenzwert liegt bei 20 Prozent, da sind Sie noch weit entfernt … ein Auge, eine neue Hand, dann eventuell… aber: Immerhin gibt es auch Gutes zu vermelden!
– Ach ja?
– Ihr Rücken wurde heilig gesprochen.
– Mein Rücken?
– Tja tja. Die Haut dort stammt von einer Stammzellenkultur, die einem ungeborenen Papst entnommen wurde. Beziehungsweise vollständig auf ihm, ähm, basierte.
– Gleicht sich das aus? Mit dem Kriminellen?
– So einfach ist es nicht. Und ich bin beim Thema. Wir haben da jetzt noch ein Gen-Problem.
– Ein Gen-Problem? Wir?
– Hören Sie zu. Ein Onkel brachte seinen Enkel um. Das Opfer war ein zum Tode verurteilter Organspender. Ihrer.
– Tragisch. Habe aber nie etwas davon gehört.
– Sie sollten sich besser informieren, Herr Doe.
– Mach ich. Aber das Opfer wäre ja wohl ohnehin am selben Tag gestorben, nicht? Und hätte nach der Hinrichtung seine Organe spenden müssen.
– Das Gesetz sieht das anders: Es war Mord. Aber nun, tja tja, der Täter floh… ein Dekonstruktionslyriker namens Ernst Fall.
– Ehrlich. Habe nie von ihm gehört.
– Sie nicht. Aber Ihre Mutter.

Jon beugt sich nach vorne. Er kann in Dr. Bellows Augen kleine geplatzte Äderchen sehen. Die gelblichen Augäpfel glänzen leicht und reflektieren das Zimmer in einer Art Fischaugenperspektive. Die Klimaanlage schaltet sich aus. Die Luft ist inzwischen so kalt, so dass Jon nicht Sätze sagt, sondern weiße Wölkchen.

– Was hat meine Mutter damit zu tun?
– Jetzt sind Sie neugierig, was?
– Allerdings!
– Okay, die Story in drei Sätzen: Sie wollte ein Kind, Sie, aber keinen festen Mann. Ergo dachte Sie an eine Samenspende. Ernst Fall aber war unfruchtbar geworden, woran er übrigens Ihrer Mutter die Schuld gab. Deswegen wurde Herr Fall geklont.
– Keuch! Das hieße ja…
– Genau: Der Klon, das sind Sie! Ernst Falls gen-identischer Sohn!
– Um Himmels willen!
– Was denken Sie denn, warum wir so geringe Abstoßungsprobleme hatten? Weil die Organe zu Ihnen passten wie die Organe des Enkels zum Onkel.
– Das wird mir jetzt zuviel. Da blick ich nicht mehr durch. Sagen Sie mir doch einfach, was im Endeffekt die Folge ist. Muss ich irgendwelche Gebühren zahlen? Neue Steuern?
– Folgen, schön schön. Nun… äh: keine Gebühren.
– Puh!…
– Da die Person, deren Klon Sie sind, einen Mord beging, und zwar an der Person, deren Organe Sie zu 18 Prozent benutzen, und die ebenfalls des Mordes schuldig ist, sind Sie zu 118 Prozent ein Mörder.
– Ich hör wohl nicht richtig?
– Übrigens zu 18 Prozent auch ein Selbstmörder, aber das fällt wie gesagt unter die 20-Prozent-Schwelle, das ist vernachlässigbar, die Christen kriegen Sie damit nicht am Arsch, und wenn doch, ziehen wir vor den obersten…
– Das ist doch alles Quatsch. Ich habe doch gar nichts gemacht!
– Schweigen heißt zustimmen. Sie wurden geboren, oder nicht? Haben Sie dagegen Widerspruch eingelegt?
– Äh…
– Eben. Nun tragen Sie auch die Schuld. So ist das. Face the facts!
– Ich erhebe Einspruch! Jetzt!
– Ich bin nicht zuständig.
– Wie überraschend.
– Haben Sie sich mal nicht so. Ein bisschen Verantwortungsgefühl hätte ich Ihnen bei der Aktenlage eigentlich schon zugetraut.
– Pah.
– Sie stehen ja auch für Ihre genetischen Defekte ein, etwa indem Sie Ihre Brille bezahlen, ebenso, wie Sie die Vorteile Ihres Erbgutes nutzen, denken Sie nur an Ihre hohe Stirnulation.
– Das ist doch was anderes.
– Auch beim Sternzeichen ist es Ihnen ja nicht egal, dass Sie ein Fisch sind. Das prädestiniert Sie ja geradezu für bestimmte Berufe…
– …und versperrt mir den Zugang zu anderen.

Sie schweigen beide. Bis Jon Doe gluckst.

– Scherz beiseite. Haha, war ’n cooler Gag und so. Weshalb bin ich wirklich hier? Sie wollen mir doch nicht wirklich erzählen, ich solle für die Verbrechen meiner Vorlage einstehen?

Dr. Bellows lehnt sich zurück, bringt ein septarinfarbenes Humidor zum Vorschein und schnuppert, als er es aufklappt. Er nimmt eine Ludwig-Erhard-Zigarre heraus und zeigt damit auf die Tür, durch die Jon hereinkam. Seine Stimme ist die eines genervten Kinderpsychologen.

– In meinem Wartezimmer sitzt Hitler, der von mir erfahren wird, dass eine UFO-Sekte ihn klonte und behütet aufzog, nur um ihn jetzt für den zweiten Weltkrieg samt Kolateralschäden büßen zu lassen. Die Kreuzung aus Gandhi und Dalai Lama ist eine Sonderanfertigung von Venter Genetic Nutrition, Inc. und sollte weltweit weise Vorträge bei VGN-Managern halten – eine ziemliche Pleite, kann ich Ihnen sagen. Ebenso wie der nabellose Einstein, der seit 30 Semestern erfolglos Physik studiert und eine Dotkommilitonin nach der anderen flachlegt, natürlich aus der Sicht eines Photons. Und unser Herr Jesus weigert sich, als Model für Calvin Klein zu gehen, dabei sind Afrikaner gerade groß in Mode.

– Recht hat er. Ich weigere mich auch, anderer Leute Büßerhemd anzuziehen.

– Das war mir klar, lächelte Bellows. Ihre genetische Disposition, Ihre ee.Vergangenheit, die Sirius-K9-Abzeichen Ihrer Eltern, Ihr mütterlicherseits angefordertes Sternzeichen Fisch Aszendent Wassermann, chinesisch Affe, indianisch Otter, und nicht zuletzt auch Ihre Handschrift haben uns das längst klar gemacht. Daher haben wir keine andere Wahl.

Eine Tür öffnet sich. Es ist nicht die, durch die Jon gekommen war.

– Das verstehen Sie doch?

remixte quellen / inspiriert durch:

» „UFO-Sekte will Hitler klonen“, Bild, August 2001

Antonjan Fellhagen

(exküntzlername 'jon do') ist autor, maler und fotograf und lebt in bremen | am liebsten schreibt er gebrauchstexte für die industrie, weil küntzla und adelige sonst arm sind und prostituierter dreck die meiste asche abwirft | findet den literaturapparat unappetitlich + aufgeblasen + fazinierend - jedenfalls den teil mit den texten

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