Friederike

Friederike I

Zufrieden sitze ich in meinem Sessel am Fenster und schaue hinaus. Es ist Ende November und in meiner Wohnung knistert es warm und still. Gedanken fliegen vorbei und verfangen sich ohne Bedeutung in den Geschenken der turbulenten Geburtstagsfeier von gestern Abend. Ich bin allein, heute bin ich allein.

Ein kleines Kitzeln lockt mich. Ohne Scheu beschnuppert Friederike meinen Handrücken und beginnt, sich mit zärtlich entschlossener Gründlichkeit zu putzen. Die Hinterbeinchen tanzen um die durchsichtigen, fein geäderten Flügel, heben sie sorgsam an, wischen den Staub von unten, um dann von oben wieder alles glatt und korrekt an den richtigen Platz zu streichen. Manchmal bin ich doch wirklich ein wenig besorgt, sie könnte sich bei dieser Kür verletzen.

Fliege (Foto: Amada44)Friederike ist eine gemeine Stubenfliege und meine Lebensabschnittsgefährtin.

Eine Frage verleiht mir gerade einen unerhört leidenschaftlichen Schwung. Hat dieses Wesen doch einen fast ungehinderten Zugang zu den geheimsten Winkeln meines Körpers und erotische Neugier fällt eben nur sehr selten auf meine gelebte Haut.

Können Fliegen lieben?

Ich werde es nicht googeln.

 

Friederike II

Wir haben eine schöne Zeit miteinander, meine Stubenfliege und ich.

Der erste Advent ist mittlerweile verstrichen und wir beide treffen uns seltener. Schon sehr früh heute morgen, es war noch fast dunkel, kam sie in mein Schlafzimmer und streichelte mich wach. Ich muss gestehen, ich war ungehalten, weil sie meine Ohren kitzelte und viel zu laut summte. Aber dann sah ich sie den ganzen Tag nicht mehr.

Besorgt entdeckte ich gestern, daß sie sehr träge und müde wird, wie eine alte Frau eben. Eigentlich kein Wunder, hat sie doch dank unserer Lebensgemeinschaft schon ein weit höheres Alter erreicht, als ihre Artgenossen. Auch scheint mir ihr Hinterteil seit einigen Tagen ein wenig gräulicher schimmernd und breiter.

Fliege (Foto: Amada44)Ach, Friederike! Nichts weißt du vom Tod, du lebst und stirbst einfach.

Mich plagen Fragen über Fragen, klare Antworten hat das Leben nicht zu bieten. Letztendlich muss ich sterben, genau wie du.

In Frieden loslassen, ist das möglich?

Wir beide können diesen Wahrheiten nicht mehr ausweichen. Hast du wirklich kein Bewusstsein darüber?

Die Erinnerungen an ihre zärtlichen Trippelschritte brennen unter meiner Haut. Ihr Kitzeln zaubert ein Staubkörnchen aus kaltem Wintersonnenlicht. Ich muss blinzeln.

 

Hanna M. Scotti

1946. Familie, Studium, Beruf, Schauspiel, Regie, Impro-Theater. Lebt in Bremen als Anarchistin und Müßiggängerin und ist ausgebildete Clownin. Begleitet Kranke und sterbende Menschen. Siehe auch www.kunstvollaltern.de und www.scottiundplett-subalternaktief.de

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