Natürlicher Versuch

Pokerface rottete seine Familie aus und ging in den Wald, um seine verlorene Jugend nachzuholen. Dem Rat seines psychologisch geschulten Onkels folgend, suchte er sich den höchsten Baum aus und versuchte, bis zu dessen Spitze zu klettern, um von dort aus weit, weit hinauszuschauen. Er schaffte das Vorhaben nicht, da er übergewichtig und ungeschickt war, also änderte er seinen Plan ab und drang tiefer in den Wald ein, um Beeren zu suchen. Sein Onkel hatte ihm geschildert, wie es nichts Schöneres geben könne, als aus der Baumkrone hinunter zu steigen und den von der Kletterei verursachten Hunger mit frischen Beeren zu stillen. Obwohl er die Baumkrone nicht erreicht hatte, verspürte Pokerface Hunger. Nach einer fünfzehnminütigen Wanderung fand er einen Heidelbeerschlag, kauerte sich hin und begann zu pflücken, wobei er alle Beeren zuerst in die linke Hand sammelte und schließlich den gesamten Haufen auf einmal in den Mund steckte, so, wie er es sicher als Kind getan hätte. Beim Einfüllen der Beeren in den Mund musste er den Kopf heben, wobei sein Blick, nachdem die erste Gier gesättigt war, auf Himbeersträucher im Hintergrund fiel, und obwohl er sich schäbig fühlte, dass er den Heidelbeeren so schnell untreu wurde, stand er auf, ging hinüber und sammelte Himbeeren in seine dunkellila gefärbte Hand. Sein schlechtes Gewissen schlug bald in Freude darüber um, dass er imstande sein würde, sich selbst zu versorgen und keine Angst vor dem Verhungern zu haben brauchte. Er setzte seinen Weg fort, steckte die Hände in die Hosentaschen und stieß voller Übermut große, weiße Pilze nach links und rechts in das Unterholz, wobei es ihm nicht in den Sinn kam, sich wegen der rings um den Wald in Stellung gehenden Polizei Sorgen zu machen. Je größer die Pilze wurden, umso lauter wurde das lustige Schmatzen, welches sie von sich gaben, wenn sie von seinem Schuh getroffen zerbrachen und in hohem Bogen davon flogen. Einem großen Exemplar folgte er aus Neugier, um zu sehen, in welcher Position es auf dem Waldboden zu liegen gekommen war. Der Pilz lag wie ein zum Trocknen aufgespannter Schirm im Moos und Pokerface versetzte ihm einen zweiten Tritt, der ihn in viele kleine Stücke zerriss. Er dachte, dass ein Eichhörnchen die Stücke einsammeln und als Vorrat für den Winter vergraben könnte. Ob die Pilze für Menschen genießbar waren, hätte ein Kenner entscheiden müssen, damit kannte sich Pokerface nicht aus. Sein nächstes Ziel war ein Bach, den er hinter dem Felsen am rechten Blickfeldrand vermutete. Je näher er allerdings dem Felsen kam und je deutlicher er die Risse und Spalten an dessen Oberfläche wahrnahm, desto mehr wünschte er sich, anstelle eines Baches eine Höhle auf der anderen Seite zu finden. Um das Schicksal zu seinen Gunsten zu beeinflussen, begann er das Alphabet aufzusagen und legte, wie er es als Kind sicher getan hätte, folgende Regel fest: Der Buchstabe, welchen er im Moment der Berührung des Felsens aussprechen würde, entschied. Lag der Buchstabe näher bei H, hatte er Glück, da es „Höhle“ bedeutete, lag der Buchstabe näher bei B, hatte er Pech, denn das bedeutete „Bach“. Als er dem Felsen so nahe war, dass er den Eindruck hatte, den Ausgang der Entscheidung durch seine Sprechgeschwindigkeit beeinflussen zu können, kostete es ihn Überwindung, ehrlich zu bleiben und die Sprechgeschwindigkeit nicht zu verändern, vor allem als er im Alphabet das H passiert hatte und sich von diesem zu entfernen begann. Seine Hand berührte den Felsen bei O und er blieb stehen, um nachzurechnen, wobei er seine Finger benützte, um keinen Fehler zu machen. Es stellte sich heraus, dass sich das Glück für ihn entschieden haben musste. Die Überprüfung zeigte jedoch, dass seine Regel nicht zutraf, worauf er dem Felsen mit der Faust drohte. Dabei sah er, dass dessen Seite stark überhing, wodurch eine Art Dach entstand, welches bei Regen Schutz bieten konnte. Auch würde es nicht einfach sein, ihn aus der Luft zu entdecken, wenn er sich hier versteckt hielt. Er versuchte, sich die Lage des Ortes einzuprägen, um im Notfall hierher zurückkehren zu können. Dazu umrundete er den Felsen zweimal und zog im Geiste Linien von markanten Spalten und Rissen im Stein zu Bäumen und Büschen in der Umgebung. Falls er keine Höhle fand, wusste er zumindest einen Platz, wo er übernachten konnte. Bis zum Einbruch der Dunkelheit hatte er noch einige Stunden, genügend Zeit sogar, um sich eine Höhle zu graben. Er betrachtete seine Hände, und es schien ihm nicht unmöglich, einen Bau herzustellen, in dem er sich vor den Polizeihunden verkriechen konnte. Er kniete nieder, prüfte die Bodenbeschaffenheit und stellte fest, dass die Erde von zu vielen Wurzeln durchzogen war, um sich ohne Werkzeug an diese Aufgabe zu wagen. Doch Werkzeug würde im Wald nicht zu finden sein. Hinter einem Hügel stieß er schließlich auf den Bach. Obwohl er in der Ferne Hundegebell hörte, machte er sich an den Bau des Staudammes, von welchem er die ganze Zeit über geträumt hatte. Da sich in nächster Umgebung keine Steine fanden, grub er im Bachbett nach geeignetem Material, trug es zu einer Engstelle und häufte es dort auf. Zunächst ging die Arbeit mühsam voran, da die Strömung immer wieder Teile des Dammes davon spülte, doch nach und nach wuchs die Sperre in die Höhe, sodass sich schließlich hinter ihr der gewünschte Stausee bilden konnte. Selbstverständlich nahm die Polizei keine Rücksicht auf seine kindlichen Tätigkeiten, sondern folgte ihrem Einsatzplan, der Hundestaffeln, Helikopter und Waffen umfasste und darauf ausgerichtet war, ihn so schnell wie möglich aufzuspüren und festzunehmen und gegebenenfalls zu töten. Schneller als er gerechnet hatte, war das Tageslicht verschwunden, und die Möglichkeit, zum Felsen zurückzukehren, um sich unter dessen Dach zu verstecken, war vertan. Ihn mit all den zu Verfügung stehenden Scheinwerfern zu finden, entpuppte sich als Kinderspiel, und alles, wofür ihm Zeit blieb, als er mit Lautsprechern aufgefordert wurde, sich zu ergeben, war mit der Ferse eine Lücke in den Damm zu ziehen und zu versuchen sich vorzustellen, wie das Wasser den Stausee wieder verließ.

Kai Roßmann

*17.9.1954 in Crailsheim, Deutschland | seit 1959 Wörgl, Österreich | Lehrer | verheiratet, 2 Kinder, Prosa, Lyrik, Audio, Tanz, Video und so weiter | mehr auf kairossmann.com

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