An den unbekannten Mann
Gestern um diese Zeit hast du neben mir gesessen. Es wäre leicht gewesen, dich anzusprechen. Fast eine Stunde lang saßen wir nebeneinander, auf Armeslänge. Ich vor meinem Notebook, du vor deinem. Du hattest im IC Fahrradabteil den Platz direkt neben mir und ich hätte dich berühren können und hätte dazu nicht einmal meinen Arm ganz ausstrecken müssen. Eine Geste von mir, nur ein Wort, und du wüsstest, was deine Nähe in mir ausgelöst hat. Ein Teil von mir hofft, dass du es irgendwie gespürt hast.
Du hattest gute schwarze Lederschuhe an. Oft getragen und nicht neu, aber blitzeblank geputzt. Dazu eine blaue Jeans, in genau dem richtigen Blauton und mit genau der richtigen Beinweite und Länge. Hin und wieder hattest du deine Beine überschlagen und aus den Augenwinkeln habe ich an ihnen hoch geschaut, soweit das eben ging, ohne aufzufallen. Ein heller Trenchcoat hing neben dir am Haken. Du hast nicht geschwitzt und gestresst gewirkt, wie all die anderen. Glaub mir, ich sehe viele Männer in Zügen sitzen. Aber dich werde ich nicht vergessen.
Ich habe versucht, mich in dich einzufühlen, dir stille Botschaften zukommen zu lassen. Natürlich weiß ich nicht, was dich veranlasst hat, die ganze Zeit diese Geräusche zu machen. Laute Hochziehgeräusche, als ob du gleich auf den Boden rotzen würdest. Vielleicht hat es bei dir im Rachen schrecklich gekribbelt und du hast eine schlimme Männergrippe auszukurieren, wer weiß das schon. Ich habe mich in mein Hörbuch geflüchtet, weil ich deine Geräusche ekelig fand. Aber als wir unser Ziel fast erreicht hatten, da hast noch eins drauf gesetzt. Du hast nach deiner Jacke gegriffen und es geschafft, sie mir beim Anziehen nicht ein, sondern gleich zwei Mal ins Gesicht zu schlagen. Zu der akustischen Belästigung kam so eine ganz handfeste, im Ärmel deiner Jacke deine Hand auf meiner Haut. Ich habe mir nichts anmerken lassen, aber mein Rückgrat hat sich ganz steif gemacht und du hast Glück, dass ich den Zurückschlagreflex meiner Hand so gut unter Kontrolle hatte.
Weißt du, in öffentlichen Verkehrsmitteln behalte ich meine Körpergeräusche für mich und es gelingt mir immer, mich so vorsichtig in meine Jacke zu schlängeln, dass ich meinen Sitznachbarn nicht berühre. Und falls es doch mal passiert, dann entschuldige ich mich. Vielleicht erwarte ich zu viel von meinen Mitmenschen. Vielleicht bin ich auch nur enttäuscht, weil mich dein angenehmes Äußeres für ein paar kurze Augenblicke darüber hinwegtäuschen konnte, was für ein übergriffiger, unerzogener, breitbeinig dahockender Mannsaffe du in Wirklichkeit bist. Tja. Eine Geste von mir, nur ein Wort, und du wüsstest, was deine Nähe in mir ausgelöst hat. Ein Teil von mir hofft, dass du es irgendwie gespürt hast. Aber Männer wie du, die spüren den Ekel der anderen vermutlich nicht.