167. Eine Gerichtsszene

Die Emanzipation
aller Gedrückten und Leidenden
Ist der Ruf des Jahrhunderts.
(Georg Gottfried Gervinus)

Richter Schmatzmann schwitzt. Er hat alle Hände voll zu tun, denn es ist er, der die Reste jenes Streiks erledigen muss, der die Stadt in den letzten Wochen in Atem gehalten hatte. Heute hasst er seine Arbeit, er hasst sie und sich selbst immer dann, wenn er es mit menschlichem Leid und Elend, mit Tragödien zu tun hat. Aber was soll er dagegen machen, was soll er tun? Schließlich hat er von seinem Chef, dem Staat, also dem Volk, den Auftrag bekommen, eben diesem Volk die Macht und Kraft der Gesetze spüren zu lassen. Und so muss er die Mutter eines Säuglings für drei Monate hinter Gitter schicken, weil sie sich die Freiheit genommen hatte, einen Arbeitswilligen als Streikbrecher zu beschimpfen. „Aber wir sind ja keine Unmenschen“, hat er ihr in aller Aufrichtigkeit gesagt, „das Kind darf solange bei Ihnen bleiben.“

Richter Schmatzmann schwitzt. Viel lieber würde er, wie es sonst seine Art ist, einen Mörder aus reichem Hause zu einer Bewährungsstrafe verurteilen, nicht nur, weil ein Mörder aus gutem Hause in der Regel gute Anwälte hat und Geld das Maß aller Dinge ist und seine Besitzer seit jeher den besonderen Schutz der Gesetze genießen, sondern weil Reiche in der Regel weniger rückfallgefährdet, das heißt einsichtiger, weil gebildeter und disziplinierter sind als Arme, als jene faulen, arbeitsscheuen Neider, die nichts zu verlieren haben und die allein schon wegen ihrer Menge eine ständige Bedrohung der herrschenden Grundordnung, des Maßes aller Dinge sind, ein Sprengsatz, ein potentieller Unruheherd, der zum Umsturz, zur Umwertung aller Werte führt, wenn er nicht hart angefasst wird, will sagen, die ganze Härte des Gesetzes spürt. Der große Haufen, das Pack, der Pöbel hat keine Vernunft, keine Bildung, keine Selbstbeherrschung, der große Haufen ist ein wildes, unzähmbares Tier, ganz seinen Trieben, seinen Leidenschaften unterworfen, das immer wieder aufs Neue zu bändigen, zu zähmen ist, nicht mit Argumenten, die es nicht achtet, weil es sie nicht versteht, sondern mit Zuckerbrot und Peitsche. Davon ist nicht nur Richter Schmatzmann überzeugt, denn diese Überzeugung ist ein Naturgesetz, eine Tatsache wie Sonne, Mond und Sterne. Und deshalb müssen an diesem Tage noch viele Streikverbrecher ins Gefängnis. Richter Schmatzmann schwitzt. Er hat alle Hände voll zu tun, um dem Recht zu seinem Recht zu verhelfen und – was ihm über alle Widerwärtigkeiten hinweghilft – um sein Teil zum Erhalt des großen Ganzen beizutragen. Wie viel lieber würde er vermögende Steuerhinterzieher freisprechen, aus Mangel an Beweisen, aufgrund der guten Arbeit guter Anwälte. Er schwitzt und es schmerzt ihn, harte Urteile aussprechen zu müssen und doch bleibt ihm keine andere Wahl, denn Dienst ist Dienst, und Schnaps ist Schnaps.

 



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Rüdiger Saß:
Das nervöse Zeitalter: oder Literatur zum Kilopreis
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Rüdiger Saß

geboren 1966 | Wohnhaft in Hamburg | Soziologe | zuletzt erschienen: Neues von der Heimatfront (Roman). Bench Press Publishing, 2008. Siehe auch www.myspace.com/leereimer - Noch zu haben: Nachtstühle - Erzählungen und Prosa

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