Das Nagen an den Gitterstäben

Theo stand in der Küche und ließ kaltes Wasser in eine leere Flasche laufen. Die Unterhose hing ihm um die Knöchel. Das Gummiband war ausgeleiert. Aber alles leierte ja mit der Zeit aus. Bei dem Gedanken versuchte er zu grinsen – der alte Gute-Miene-zum-bösen-Spiel-Trick – aber der war noch laffer als das Gummiband. Der Morgen hatte ihm bereits einen Strich durch die Rechnung gemacht. Das Läuten des Telefons hatte ihn aus dem Schlaf gerissen, während die Sonne durchs Fenster knallte und von der Straße Kindergeschrei dröhnte. Dass er nicht mehr einschlafen konnte, hatte er sofort gewusst. Noch dazu diesen elendigen Kater. Der Magen in Aufruhr und der Mund trocken, wie eine handvoll Katzenstreu. Und natürlich war die Wasserflasche neben dem Bett leer gewesen. Jetzt sprudelte sie über. Er drehte den Hahn zu, setzte die Flasche an und ließ die Hälfte in sich hineinlaufen, als er merkte, wie es ihm kam… Er zog die Unterhose hoch, hielt sie fest und machte so schnell er konnte. Der Toilettendeckel war zum Glück hochgeklappt.

Als er fertig war, drehte er sich um, ließ den Bund der Unterhose los, hockte sich auf die Brille und ließ locker. Man musste nur damit umzugehen verstehen. Haha, dachte er, ein Trick zum Eier legen. Alles erschien ihm so verflucht weit weg.

Theo war 47 Jahre alt und hatte es als Schriftsteller noch immer nicht geschafft. Zwei Ehen und zwei Scheidungen hatte er hinter sich gebracht. Das Resultat war eine Tochter, die nichts von ihm wissen wollte. Er bewohnte ein Einzimmerappartement einer Hochhaussiedlung am Stadtrand. Mit den Alimenten war er im Rückstand. Aber auch sonst gab der Kühlschrank zum Monatsende nie viel her. Seine zerschlissenen Kleider hingen schlaff an ihm herunter. Er trank zu viel. Natürlich! Mit den Frauen war er durch, aber das Leben hatte ihn noch nicht ganz geschafft. Ihm blieb immer noch sich hinzusetzen und den nächsten Satz zu schreiben. Und den übernächsten. Er war Schriftsteller. Er lebte den Traum!

Nur hatte er schon seit Tagen keinen vernünftigen Satz mehr geschrieben. Er musste dringend was aufs Papier bekommen, sonst würde er nur wieder das große Zweifeln kriegen. Und Zweifeln führte bei ihm nur zum Trinken, was wiederum dazu führte, dass er weniger schrieb…

Die letzten Jahre stiegen wieder in ihm auf. Wie er es gehasst hatte früh aufzustehen, um zu seinem Arbeitsplatz zu fahren. Er kannte viele, die behaupteten, ohne Arbeit wäre ihnen das Leben zu langweilig. Aber das war deren Bier. Sein´s war´s ganz sicher nicht. Er schlief gerne lange aus und ließ dem altersschwachen Rechner seine halbe Ewigkeit zum Hochfahren und tippte und tippte und tippte und Scheiße! was war das doch jedes Mal für ein Sieg, etwas, wenn´s auch nur für einen Lidschlag überdauern sollte, aus dem Nichts gehoben zu haben.

Jetzt klingt er schon, wie ein Autoreninterview auf Seite 27.

Dabei schien er damit seit kurzem endlich etwas Glück zu haben. Martin Götz, Verleger und Mitherausgeber einer kleinen Literaturzeitschrift – Schädelbasisbruch – druckte seit über zwei Jahren seine Stories. Dazu würde bald sein zweiter Roman erscheinen – Das Leben im Raubtierkäfig – Das und eine wöchentliche Kolumne, die ihn Martin schreiben ließ, bewahrten ihn gerade so vor dem Absaufen.

Guter, alter Martin!

Auch wenn der Pegel keinen Millimeter steigen dürfte.

Theo hatte zu oft schon am Fenster gestanden und mit dem grauen Beton geliebäugelt. Letztes Jahr waren drei Männer aus dem Fenster gesprungen. Was, statistisch gesehen, über dem Durchschnitt liegt. Dieses Jahr waren noch keine Wohnungen frei geworden, allerdings stand auch erst der Frühling vor der Tür, und die meisten Selbstmörder hoben sich den Sprung für die besinnliche Zeit am Jahresende auf. Statistisch gesehen.

Das Telefon klingelte. Schon wieder. Er wischte sich den Hintern ab, trat die Unterhose in die Ecke und wusch sich die Hände, das Gesicht, den Nacken… Das Läuten riss nicht ab.

„JA?“

„Theo?“

„Ja?“

„Ich bin´s.“

„Was gibt’s, Martin?“

„Wie geht’s dir? Du hörst dich grauenhaft an.“

„Bin grad´ erst aufgestanden.“

„Hast du´n Kater?“

„Ja, heißt Lucky, soll ich´n von dir grüßen?

„Ja, ja, schon gut. Pass auf ich hab hier deine letzte Story liegen…“

„Die mit dem lüsternen Bademeister?“

„Was? Nein, nein, nichts von einem Bademeister…“

„Schick ich dir rüber. Wird dir gefallen.“

„Genau deshalb ruf ich ja an, du fängst an abzudrehen, in deinen Geschichten steckt nur noch Wahnsinn und Mord.“

„Wovon redest du da, ich schreib bloß auf, was sich vor meinem Fenster abspielt.“

„Vielleicht solltest du dir ein anderes Fenster suchen.“

„Martin, was willst du, von welcher Geschichte redest du überhaupt?“

„Von der mit dem irren Metzger.“

„Was gefällt dir daran nicht?“

„Du lässt ihn Leute abschlachten und ihn die Körperteile in die Auslage legen und verkaufen.“

„Weshalb sollte er sie sonst da rein packen?“

„Ja, sicher doch, aber du lässt ihn junge Frauen und Kinder schlachten, davon wollen die Leute nichts hören, jedenfalls nicht die, die wir als Leser haben wollen, der Schröder steigt mir schon aufs Dach deswegen.“

„Sieh mal, Martin, der Kerl ist verzweifelt, er hat eine kleine Tochter und eine Ex-Frau, die ihm das Sorgerecht streitig machen will, weil er die Alimente nicht mehr zahlen kann. Er hat alles verloren, haust in einer kleinen Einzimmerwohnung mit einem Teller und ´ner verbogenen Gabel. Das Bisschen, was der Laden abwirft, bekommt seine Frau, und das wird auch immer weniger. Was soll er machen, die Biowelle hat ihn überrannt und gutes Fleisch ist teuer, sehr teuer, was er sich nicht leisten kann, nichts kann er sich leisten, gar nichts, und dann kommen auch noch die Anwaltskosten hinzu – siehst du, wie verzweifelt er ist – und dann sieht er all diese jungen Frauen im Supermarkt, nur Grünzeug in den Einkaufswagen und…“

„Ja, das mit den Frauen leuchtet mir ja noch ein, aber warum die Kinder, keiner mag es wenn Kinder ermordet werden.“

„Ach, Kalbfleisch ist auch zarter als Rind, was weiß ich, dann streich´ die Kinder halt raus, wenn sie dich stören.“

„Keine Chance, vergiss es, der Schröder will die Story nicht drin haben. Sorry, Mann. Schalt einfach wieder einen Gang zurück. Okay?“

„Ich versuch´s.“

„Okay! Und sonst? Wie geht’s deiner Tochter?“

„Kommt nach ihrer Mutter.“

„Und der Mutter geht’s auch gut?“

„Martin, was soll die blöde Fragerei?“

„Wollt nur sicher gehen, dass sie nicht in deiner Kühltruhe gelandet ist.“

„Gute Idee – ich schick´ dir die Geschichte sobald ich satt bin.“

„Dann lieber den lüsternen Schwimmlehrer.“

„Bademeister, Martin. Bekommst du.“

„Aber lass ihn keine Frauen ersaufen, oder hinter Kindern her sein – Gott bewahre! lass ihn bloß nicht hinter Kindern her sein.“

„Vertrau mir, sie wird dir gefallen.“

Theo legte auf. Er überlegte, wusste aber nicht mehr so recht, was mit dem Bademeister passiert war. Sein Schädel dröhnte schlimmer und schlimmer. Bademeister? Bademeister? Die ertrinken doch alle in der eigenen Badewanne. Was soll´s, er würde sie ihm einfach schicken und gut ist. Er knipste den Rechner an und ging in die Küche, warf eine Aspirin ein und schaute in den Kühlschrank. Nichts außer etwas Butter, ein halbes Glas Oliven und zwei Flaschen Bier. Er entschied sich für ein Bier und legte sich wieder ins Bett.

Zuviel Mord und Wahnsinn, dachte Theo. Zuviel Mord und Wahnsinn. Pah! Ich hab Jahre an meinen Sätzen festgehalten, in einer Zeit, in der nichts als Buhrufe und Gelächter aus den Verlagen hallte. Warum soll ich jetzt anfangen mich zu verbiegen? Würden sich doch nur viel mehr an ihre eigenen schrulligen Sätzen klammern, aber sollen sie doch zum Teufel gehen! Das hier ist meine Wirklichkeit – Ende! Aus! Scheiß auf Micky Mouse!

Eine gut halbe Stunde später klingelte es an der Tür. Ein langgezogenes Klingen, gefolgt von weiteren kurzen Stößen. Theo wollte nicht aufstehen, wollte mit niemandem reden, wollte von nichts etwas hören – er wollte einfach nur liegen bleiben.

Das Klingeln wurde penetrant.

Diesem verfluchten Dreckskerl werd ich…

Er trat die Bettdecke weg, stieg in seine Hose und marschierte zur Tür. Es war Gabi, die Mutter seiner Tochter.

Gabi war ein paar Jahre jünger als er, und hatte trotz der Geburt ihre Figur behalten. Jetzt trug sie eine enge Jeans, die ihre langen Beine und ihren Hintern betonten. Sie sah gut aus, wie sie da vor der Tür stand, an ihm vorbei ins Wohnzimmer ging. Sie roch auch gut. Dann fragte sie ihn, was mit den Alimenten sei?

„Du elender Versager, du! Kannst nicht mal deine Familie ernähren.“

„Sie dich um, Gabi, schwelg´ ich etwa im Luxus?“

„Dann mach endlich was dagegen.“

„Ich erwarte noch eine Zahlung für eine Story“, log Theo.

„Hältst du dich immer noch für einen Schriftsteller? Mein Gott, Theo, mach endlich was, andere Männer bekommen ihr Leben ja auch auf die Kette, nur du wieder nicht.“

„Andere Männer werden auch von ihrer Familie geliebt.“

„Ja richtig, ich vergaß ja, du bist ja gar kein Mann. Aber was, Theo, was können wir dafür, dass du so ein Versager bist, huh?“

„Gabi, können wir das nicht anders regeln? Wir haben uns doch mal geliebt, denk doch nur an die Kleine…“

Sie lachte. In seinen Gedanken schlug er ihr eine runter. Das hatte er schon x-mal getan, aber er wusste, das würde ihn teuer zu stehen bekommen. Und er konnte sich ja nicht mal eine Kühltruhe leisten. Also schlug er´s sich aus dem Kopf.

„Sieh dich nur an, du bist erbärmlich, keiner will sich von dir was vorheulen lassen – such dir endlich einen Job und zahl für dein Kind.“

„Such du dir doch ´nen verkackten Job, dein Arsch hat doch noch nie gearbeitet.“

„Mein Arsch hat lang genug hinter deinem hergearbeitet.“

„Jaja, leck mich dran.“

„Ich schwörs dir, bekomm ich nicht bald mein Geld, sehen wir uns vor Gericht wieder!“ Mit einem Schwung drehte sie sich, so dass ihre Haare herumwirbelten.

Theo sah sich in diesen Wust von Haaren greifen und … und …

Dann war sie durch die Diele und die Tür knallte ins Schloss. Er hasste es, wenn sie die Tür knallte. Am liebsten wäre er ihr hinterher.

Theo seufzte, holte sich das zweite Bier aus dem Kühlschrank und legte sich zurück aufs Bett. Wie viele von seiner Sorte, dachte er, gab es wohl, die in kleinen, dreckigen Zimmern lagen und sich mit Ex-Frauen rumschlugen, mit Alimenten, einem riesigen Haufen Rechnungen, unter dem ein erstickter Traum vergraben lag. Wie viele haben wohl begonnen ihren Traum zu hassen, zu verachten und in die Tonne gekloppt, um ein Mann zu sein. Vielleicht hätte er einfach Schuster werden sollen.

Er stand auf, ging zum Rechner, setzte sich und begann zu tippen: Jens Mair ließ sich zurück auf seinen Arbeitshocker fallen und wendete sich wieder dem alten Lederstiefel zu. Die Sohle löste sich. Er prüfte, ob es mit Klebstoff getan sei, während sich langsam die Abendsonne durchs Fenster lehnte und ein rötliches Licht auf den stillen Frauenkörper warf, der regungslos auf dem Boden in der Mitte der Werkstatt lag. Jens spannte den Stiefel zwischen seine Oberschenkel und begann vorsichtig die Sohle abzuklopfen. Der Klang des Hammers auf das abgewetzte Leder durchdrang den stillen Herzschlag seiner Erinnerung an eine endgültig in die Brüche gegangene glückliche Zeit.

Mit einem hatte Gabi allerdings recht gehabt, gestand Jens sich ein, ein richtiger Mann wusste was nötig war, und tat es.

Frank Trummel

1984 in Wuppertal geboren. Fachabitur. Zivildienstleistender. Supermarktaushilfe. Küchenjunge. Kurierfahrer. Ausbildung zum Augenoptiker. Arbeitsloser. Halbtagsoptiker. Wird fortgesetzt…

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