Wie Hunter Mayhem nach Uruguay reiste

Hunter Mayhem war Uruguay.
   Er stand wie der Schatten einer Bogenlampe in seiner Küche, schaute aus dem Fenster und ließ seine Worte vom Glas runter aufs Fensterbrett laufen.
   »Guter Gott, Hunter«, sagte Hunter Mayhem zu sich selbst, »du kannst nicht nach Uruguay reisen. Du gehst ja nicht mal raus, um die Post aus dem Briefkasten zu holen.«
   Der Briefkasten, dreieinhalb Meter unterhalb der Pfütze aus Worten zu seinen Füßen, längst übergequollen. Ein großer Haufen Papier auf der Straße. Leute wühlten darin herum oder sprangen hinein, Kinder zerrissen, was sie in die Finger bekamen. Die Postfrau gab ihnen Tag für Tag Futter.
   »Uruguay«, sagte Hunter Mayhem, »Fluss der bunten Vögel, der Schnecken, des Urulandes, der Essensbringer.«
   Es war 7:12 Uhr. In der Republik Östlich des Uruguay wurde es gerade hell. Hier aber stand die Sonne über dem Dach im Zenit, pflasterte mit ihren Strahlen die Straße und tapezierte Lichtbahnen über aufgebrachte Schädel.
   »Also schön«, sagte Hunter Mayhem, atmete tief ein und nicht ganz so tief wieder aus, »der Fluss ist bereit, durchwatet zu werden.« Und machte einen Schritt nach vorn, und da war die Wand.
   Das Schienbein bläute unter dem Heizkörper auf.
   »Ich erinnere mich an die herrlichen Fouls bei der WM ’86 gegen die Balltreter aus Schottland«, sagte Hunter Mayhem, »Batista, Fußballgott, Sensenmann, rote Karte nach sechsundfünfzig Sekunden.«
   Das Schienbein grünte wie der Rasen im Stadion von Nezahualcóyotl.
   »Ganz Montevideo muss voll von Blutgrätschen sein.«, dachte Hunter Mayhem und warf einen sehnsüchtigen Blick hinab auf die Straße.
   Die Postfrau brachte neue Briefe.
   »Hüfte wie ein uruguayanisches Rind«, befand Hunter Mayhem, und neben seinem Kopf hingen die Statistiken.
    
   Uruguay
   3,8 Rinder pro Einwohner.
   59,9 % der Landesfläche für die Rinderzucht benötigt.
   82,4 % wenn man die Milchwirtschaft mitrechnet.
    
   Hunter Mayhem trank Kaffee.
   Es war heiß, und alles schwitzte und hing schief. Die Statistiken. Die Uhren. José Batista an der Wand. Hunter Mayhem hinter der Scheibe.
   Aber er hatte damit begonnen. Heute morgen, als er in seiner Küche aufgewacht war. Folglich war es auch an ihm, die Situation zu beenden.
   Aber was war eigentlich die Situation? Und was war sie außerhalb seiner Küche, außerhalb seines Briefkastens? Und wo führte die Tür hinter ihm eigentlich hin? Uruguay?
   »Ich könnte mich umdrehen und nachschauen«, sagte Hunter Mayhem, »aber ich habe Angst, dass es nicht Uruguay ist, was hinter der Tür liegt. Vielleicht ist es ja Kolumbien. Oder Panama.«
   »Warum schaust du nicht einfach durchs Schlüsselloch?«, sagte José Batista. »Gordon Strachan war auch rothaarig, als ich ihn foulte.«
   »Im Schlüsselloch steckt ein Schlüssel«, sagte Hunter Mayhem, »ich könnte mir ein Auge ausstechen. Oder zwei.«
   »Zieh ihn raus!«, befahl José Batista.
   »Ich weiß nicht«, sagte Hunter Mayhem, »durch so ein Schlüsselloch kann alles mögliche reingeschwappt kommen. Ich meine, falls es nicht Uruguay ist.«
   »Was soll das heißen?«, fragte José Batista.
   »Der Schlüssel zum Glück ist auch immer der gegen die Katastrophe«, sagte Hunter Mayhem, »und Gordon Strachan hat inzwischen aschblondes Haar.«
   José Batista schüttelte den Kopf, und sein Schopf fiel runter ins dreckige Geschirr. Er war jetzt ganz kahl.
   Hunter Mayhem kratzte sich.
   Er stand noch immer schief in der Küche und schwitzte, derweil sich unter ihm die Leute um seine Rechnungen balgten.
   »Sie wissen nichts von Uruguay«, sagte er zu der Scheibe. »Uruguay ist für sie nur ein Wort. Wenn es überhaupt eines ist.«
   »Und was ist es für dich?«, fragte die Scheibe.
   »Für mich ist es das Ein und das Alles«, sagte Hunter Mayhem, »und das Dazwischen erst recht.«
   »Das Dazwischen bin ich«, sagte die Scheibe.
   »Oh«, sagte Hunter Mayhem, »dann bist du es, die mich an meine Mutter erinnert.«
   »Ich wusste gar nicht, dass du eine Mutter hast«, sagte die Scheibe.
   »Und was für eine ich habe«, sagte Hunter Mayhem, »sie sagte immer: Warum bist du nicht wie Joseph, der seine Heimat liebt. Oder wie Eudipius, der seine Mutter verehrt. Warum Uruguay, Hunter, warum?«
   »Und was hast du ihr geantwortet?«, fragte die Scheibe.
   »Ich weiß es nicht«, sagte Hunter Mayhem, »ich habe keine Erinnerung mehr.«
   »Glas«, sagte die Scheibe, »Glas ist Erinnerung. Warum spiegelst du dich nicht in mir?«
   »Ich weiß nicht«, sagte Hunter, »vielleicht hast du ja recht, vielleicht habe ich gar keine Mutter.«
   »Spiegel dich!«, rief die Scheibe.
   »Ich könnte es selbst gesagt haben«, sagte Hunter Mayhem, »dann wäre Uruguay meine Heimat. Und auch meine Mutter.«
   »Spieglein, Spieglein an der Wand, Batistas Haar ist wohl verbrannt?«
   »Nein, es liegt in der Spüle«, sagte Hunter Mayhem, »die Statistiken irren sich nicht.«
   »Und warum trägst du Papstornat?«, fragte die Scheibe.
   »Er war da«, sagte Hunter Mayhem, »31. März bis 1. April ’87, kein Witz.«
   »Ich weiß«, sagte die Scheibe, »aber du schwitzt.«
   »Zweiter Besuch«, sagte Hunter Mayhem, »ganz Montevideo war voll mit warmen Worten.«
   »Was soll das heißen?«, fragte die Scheibe.
   »Wenn Uruguay meine Heimat ist und auch meine Mutter, dann war die Frage nach dem Warum keine Klage«, sagte Hunter Mayhem, »dann war es ein heimlicher Liebesbeweis, ein großes Wünschen der uruguayanischen Seele, der Ruf, endlich zu ihr zu kommen und in den Leib zu kriechen, aus dem ich geboren werden soll.«
   »Aber die Statistik …!«, rief die Scheibe.
   Doch es war schon zu spät.
   Hunter Mayhem hatte seinen Kopf durchs Glas geschlagen.
   Die Menschen auf der Straße stoppten.
   Hunter Mayhem stieg durch das Fenster, klirrte aufs Brett.
   Die Worte klebten ihm unter den Schuhen.
   Er kippte nach vorn, drückte sich kurz vorm Fall von der Fensterbank ab.
   Frauen kreischten, Kinder lachten, Männer kratzten sich ihre kahlen Schädel.
   Hunter Mayhem blutgrätschte durch die Luft, runter, bis vor den Kasten, zerschmetterte ihn mit gestrecktem Gebein.
   Keine Karte.
   Im Westen ersoff sich die Sonne im Uruguay.

 

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xo

Francis Nenik

Francis Nenik lebt als Bauer auf dem Land und schreibt in seiner Freizeit. Er hat diverse Bücher veröffentlicht. Seine aktuellen Werke umfassen den Loseblattroman »XO« (2012) sowie ein Buch mit Texten in strenger Alliteration (2013, zusammen mit der Illustratorin Halina Kirschner). Auf Englisch erscheint im Oktober sein Buch »The Marvel of Biographical Bookkeeping« in der Übersetzung von Katy Derbyshire bei Readux Books. Ein Großteil von Neniks Werken existiert dabei nicht nur auf dem Papier, sondern kann – dank der jeweils verwendeten Creative Commons Lizenz – in seiner digitalen Version kostenlos im Internet gelesen, heruntergeladen und weiterverbreitet werden. www.the-quandary-novelists.com / ww.ed-cetera.de

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