Dessous für die Damen
Niemand sonst will auf der Bank direkt an der Hauptstraße sitzen. Er lehnt sich zurück, er hört den Lärm nicht. Eine Taube tapst um seine Füße herum, schaut schräg zu ihm hoch – kalte Augen. In der Innentasche seiner Jacke stecken zweitausend Euro.
Ein Tag ohne Himmel und ohne Sonne. Die Innenstadt quillt über vor Menschen. Er weiß nicht, ob er zufrieden sein soll. Heute hat er schon eine neue Frau gefunden, ziemlich früh sogar. Eine Geschäftsfrau mit dem idealen Gesicht. Mit seinem Super-Zoom konnte er sie ein paar Mal abschießen: gute Bilder dabei, Glück gehabt, vergessen die Tage, an denen bis abends gar nichts gelaufen war.
In seinem Fotostudio auf dem Land liegen einige nackte Körper, die ihm reichen. Er braucht sich nicht genau an sie zu erinnern, denn sie sind sich ähnlich, bis auf den fülligen mit den ärgerlichen Rissen im Papier. Von ihm gibt es mehrere Fotos, doch dieses eine mag er am liebsten. Die Köpfe hatte er abgeschnitten und weggeschmissen – er sorgt ja für Nachschub. Mit der Fülligen würde die Geschäftsfrau perfekt harmonieren. Es kommt darauf an, dass ihm der Ausdruck gelingt. Die Hauttöne machen die meisten Schwierigkeiten.
Er geht seine Stimmen durch. Auf der CD hat er eine Sammlung davon, darunter Radiosprecherinnen, eine Fernsehmoderatorin mit einmaligem Timbre, eine weibliche Hauptrolle aus einer Filmkomödie, sehr angenehm – doch vor allem die elegante Dame vom Wurst-Tresen. Von ihrer Stimme ist er besessen. Eines Tages stand sie vor ihm in der Reihe und sprach die Bedienung an. Der Klang ihrer Stimme elektrisierte ihn, er kramte hektisch nach dem kleinen Aufnahmegerät in seiner Jacke. Diese Stimme musste er haben. Die Dame sagte: „Noch zweihundertfünfzig Gramm von der Gutsleberwurst, bitte!“ Danach blieb sie eisern stumm.
„Noch zweihundertfünfzig Gramm von der Gutsleberwurst, bitte!“ Was für ein Satz – Leberwurst passt einfach nicht zu dieser Dame, und dann auch noch ein halbes Pfund. Wahrscheinlich wählte sie instinktiv die geadelte Sorte, wahrscheinlich ist ihr selbst Leberwurst zuwider und nur ihr Mann frisst sie fingerdick aufs Brot geschmiert in sich hinein. Die Dame hätte auch beim Bäcker für ein Croissant anstehen können: „Kann ich bitte ein Croissant haben?“ Damit wäre er glücklich geworden, das hätte sich nach etwas angehört. Vielleicht wird er die Stimme aus der Filmkomödie für seine Geschäftsfrau nehmen – oder die Leberwurst wieder ignorieren. Bisher hat das funktioniert.
Sein Problem ist das Vergessen. Was er vergessen will, brennt sich in ihm ein, doch an Schönes kann er sich nur schwer erinnern. Er machte schon Frauen, die er in seinem Kopf nicht wiederfinden kann. Sie verflüchtigen sich, mal nach Tagen, mal nach Wochen – einfach weg, sie verstecken sich in den dunklen Nischen seiner Gehirnwindungen und lachen ihn aus. Dann steht er vor dem Nichts. Er muss in seiner Phantasie Frauen neu gestalten, die er eigentlich schon kennt. Diese Schöpfungsprozesse setzen ihm zu, sie geben ihm den Rest.
Heute wird sich alles ändern. Elf nackte Körper im Großformat besitzt er. Als er ihnen gestern mit den Gesichtern seine Art von Leben einhauchen wollte, als die Hochglanz-Torsos aufgereiht vor ihm auf dem Fußboden lagen – da bemerkte er seinen Fehler: Die Kleidung fehlt. Gesichter, Körper, aber keine Kleider. Frauen ziehen sich ebenso gern an wie aus, eine Art Naturgesetz. Oder sie wurden irgendwann so zivilisiert, dass sie nicht mehr ständig nackt sein wollen, deshalb. Seitdem gibt es die Mode.
Im Eingang des Kaufhauses wird er von einem Luftstrom erfasst, der seine spärlichen Haare durcheinander wirbelt. Für einen Moment kommt er in Panik, greift sich verzweifelt an den Kopf. Kaufhäuser sind eine fremde Welt für ihn. Er steht vor einem Leuchtdisplay – Damen-Oberbekleidung zweiter Stock.
Eine Mutter will mit ihrem Kinderwagen die Rolltreppe hochfahren, sie schaut sich hilfesuchend um. Er flüchtet sofort in die Gänge, wo der Brechreiz langsam wieder nachlässt. Da sind andere Leute, die der Mutter helfen können. Wahrscheinlich darf man die Rolltreppe mit einem Kinderwagen gar nicht benutzen. Schwierigkeiten kann er nicht gebrauchen.
„Kann ich helfen?“, fragt eine weibliche Stimme hinter ihm. Er zuckt zusammen. „Nein, äh… ich glaube nicht. Nein, danke.“
„Gestern sind unsere neuen Kollektionen eingetroffen. Wollen Sie mal schauen?“
Das klingt locker. Er schaut sich tatsächlich um, er ist in der Dessous-Abteilung gelandet. Die Verkäuferin gefällt ihm, obwohl sie Jeans trägt und eine enge Bluse. Sie scheint noch jung zu sein, sie gibt sich sehr selbstbewusst. Weiter vorne taucht sie mit ihren Händen in eine Reihe Unterwäsche ein. Er weiß nicht, warum er ihr folgt.
„Hier, ein reizendes Set in Savanna-Pink, topaktuell. Mit raffinierten Strumpfhaltern, echte Spitze, cool.“ Sie hält etwas Undefinierbares in der Hand.
„Packen Sie’s ein.“ Er überlegt: Die Damen-Oberbekleidung kann er weglassen. In der Dessous-Abteilung wird er alles finden. Mehr Kleidung brauchen seine Frauen nicht.
„Gibt es das in mehreren Farben?“
„In drei Farbtönen.“
„Ok, ich nehme alle.“
„Wirklich? Und welche Größe?“
Das ist es, was ihn bei Frauen wütend macht, diese sinnlosen Nachfragen. „Normal, so einssiebzig“, antwortet er schnell
„Schlank?“
„Ja, ja. Und dahinten, was hängt da?“
Der Blick der Verkäuferin wird kritisch, sie sagt: „Torselets, Mieder und Bustiers. Soll ich nicht erstmal diese Sets…?“
„Gut, machen Sie das. Ich bin da drüben. Bringen Sie die Sachen bitte mit.“
Als die junge Verkäuferin mit einer älteren Kollegin ankommt, hat er schon fünf Mieder ausgesucht und wühlt sich in dem Hängeregal weiter vor.
„Guten Tag, mein Herr!“ Die Begrüßung ist ein Verweis. Er reagiert gelassen: „Guten Tag. Moment, bitte – ich bin gleich durch.“
„Normalerweise probiert man eine Corsage vor Ort an“, erklärt die Neue streng. „Sie sollten ihre Frau mitbringen. Und die meisten Stücke sind vom Umtausch ausgeschlossen. Haben Sie die Preisschilder gelesen?“
„Das geht in Ordnung. Ich bezahle bar.“
Die Neue bleibt hartnäckig: „Sie haben überhaupt nicht auf die Größen geachtet – da, fast alle verschieden, sehen Sie? Damit werden Sie ihrer Frau bestimmt keine Freude machen.“
Mit dieser Tante darf er sich nicht anlegen: „Die Sachen sind für eine Tombola in meinem Betrieb. Mehrere Mitarbeiterinnen, verstehen Sie? Die können dann ja später durchtauschen.“
Mit einem Schwung will er der Neuen den Packen Mieder überreichen, doch die bewegt sich plötzlich rückwärts: „Nein, nein! Dafür ist meine Kollegin zuständig.“ Sie verschwindet in einem Meer von Dessous.
„Was hat die denn?“, fragt er die junge Verkäuferin.
„Na, ja… schon komisch, wie Sie Dessous einkaufen.“ Sie lacht. „Dessous für eine Tombola? Hab’ ich noch nie gehört, ehrlich. Find’ ich aber lustig.“
„Hätten Sie Lust, zu kommen… zur Tombola?“ Die Einladung ist ihm herausgerutscht.
Sie lacht, sie lacht schon wieder so laut. Er beginnt zu zittern, er wartet auf ihre Antwort.
„Danke – nein, lieber nicht.“
Die Erleichterung bringt ihn ins Wanken. Er bewundert das Mädchen. Nicht alle haben diesen Überlebensinstinkt.