Die Lehre
Der Lehrer betritt den Klassenraum. Sein Name: Nurgut, Gutnur Nurgut, neunundvierzig Jahre alt, verheiratet, zwei Kinder, unsportliche Figur, verbrauchtes, ausgebranntes Gesicht, Halbglatze, (noch) nicht bekennender Alkoholiker, Kettenraucher, zahlendes Mitglied des Automobilclubs und der katholischen Kirche und verschuldet bis zum Horizont, verschuldet, um sich das Zubehör bürgerlichen Durchschnittglücks zu leisten: eine Frau, eine Freundin, zwei offizielle Kinder, ein inoffizielles, ein nicht ganz neues Einfamilienhaus im Überschwemmungsgebiet eines Flusses, zwei Autos, drei Fernseher, Einbauküche, Wohnlandschaft, Hobbykeller, Urlaub, Bluthochdruck, Neurosen und Depressionen. Es warten: ein Herzinfarkt, ein Schlaganfall, das eine und andere Geschwür …
Der Lehrer betritt den Klassenraum, schon wieder. Er spürt, dass der Cognac in seinen Adern nicht ausreichen würde, um die nächste Stunde zu überstehen, ohne Gesichtsverlust, ohne Verlust der Selbstkontrolle. Wie oft hatte er in der Vergangenheit herumgebrüllt, geschrien und gedroht, wegen nichts, wegen fast nichts! Und wie oft saßen seine Schüler, seine Schülerinnen da wie verschrecktes Wild, das sich ohne Schutz, ohne Schirm einer Naturgewalt, einem Irren ausgesetzt sah! Und wie groß die Scham des Lehrers, der seinen Frust, seine Ohnmacht, seine Niederlagen an Unschuldigen, an Unbeteiligten ausließ! Damit solle von nun an Schluss sein, Lehrer Nurgut will reinen Tisch machen. Er setzt sich auf sein Pult, zieht ein Cognacfläschchen, einen Flachmann aus der Ledertasche und trinkt. Und trinkt vor versammelter Klasse. Dann stellt er die leere Flasche auf das Pult, dass es kracht. Und er schickt einen triumphierenden, wenn auch verschwommenen Blick durch die Tischreihen. Er sieht teils erstaunte, teils belustigte Heranwachsende, Vierzehn- bis Fünfzehnjährige, von denen wenigstens der und die eine und andere noch von einem Glück jenseits aller Bürgerlichkeit beseelt sind. „Heute“, sagt der Lehrer, „heute beginnen wir ein neues Projekt, und wir beginnen es mit einem Ausflug.“
Gutnur Nurgut geht mit den Schülern in einen milden Frühlingsmorgen hinaus; er führt seine Schutzbefohlenen zum Fluss auf der anderen Seite der Stadt. Und er kommt sich ein wenig wie der Rattenfänger von Hameln vor, als er vor einem Vorstadthaus im Grünen stehen bleibt, vor einem Haus mit großem Garten, das ganz nach der Mode seiner Erbauungszeit einem Hochbunker gleicht: dicke Mauern, wenige, kleine Fenster, Flachdach. „Das ist es“, sagt der Lehrer mit leisem Lächeln, „das ist das Material für das Projekt: Einführung in die Marktwirtschaft.“ Die Aufgabe ist ein Kinderspiel: Das Grundstück dient als Baufläche für einen Neubau, dessen Wohneinheiten als Eigentumswohnungen verkauft werden sollen. Da aber außer der Idee weder Eigenkapital noch Kredite zur Verfügung stehen, muss das Vorhaben vorfinanziert werden, und zwar von den Käufern der Eigentumswohnungen. „Eure Aufgabe“, lächelt der Lehrer, „besteht darin, Träume zu verkaufen!“
Am nächsten Morgen werden Arbeitsgruppen gebildet: Die Architekten-, die Verwaltungs- und die Marketinggruppe. Die erste Gruppe rekrutiert sich aus den Computerkids und Künstlern, die zweite aus der großen Schar der normal- und minderbegabten Mitläufer, und die dritte Gruppe schart sich um Caspar, den Klassenclown. Die Architekten zaubern übers Wochenende ein Vielfamilienhaus auf den Bildschirm, einen weißen Wohnbunker mit vielen kleinen Fenstern und Flachdach, mit einladend ausladenden Balkonen und viel, viel Grünzeug darauf und drum herum, ein wuchtiger Wohnwürfel, den die Marketinggruppe für ihre Werbekampagne verwendet. Letztere wird mit den Mitteln der Klassenkasse bestritten. Neben einen nach Bestnoten verlangenden Internetzauftritt werden Anzeigen in der lokalen und überregionalen Zeitungslandschaft geschaltet, und nach einigen Tagen steht das Handy Caspars, des Klassenclowns auch dank der grassierenden Wohnungsnot nicht mehr still. Es werden Besichtigungstermine vereinbart, und aus Caspar, dem Clown, wird mit Hilfe der Kosmetik und eines Anzugs aus dem Hause Nurgut der ebenso Vertrauen erweckende wie auskunftsfreudige Herr Sandmann, der alle Wünsche zu wecken und alle Zweifel zu zerstreuen weiß, obwohl oder gerade weil er zu den Besichtigungsterminen anstatt mit dem erwartbaren Herrenklassewagen mit dem Fahrrad erscheint. Fragen, ob etwa das Haus nicht zu nah am Wasser gebaut werde, pariert der dynamische Jungunternehmer mit dem Hinweis, das Haus werde von einer drei Meter hohen mobilen Flutwand geschützt. Um aber auf Nummer sicher zu gehen, rate er – gegen Aufpreis – zum Kauf einer Wohnung in den oberen Etagen …
Frau Nurgut hält auch dieses Projekt ihres Gatten für eine weitere Schnapsidee, sie schimpft und schnaubt, sobald sie auf das riesige Bauschild blickt, das ihre Terrasse in den Schatten stellt. Der Hass auf ihren Mann lässt ihre Magensäure angesichts der vielen Leute, die ihre Frühjahrsrabatten zertrampeln, wie einen Springbrunnen sprudeln. Ihr Gatte versucht sie wie immer vergeblich damit zu beruhigen, dass der Spuk schon bald, sehr bald ein Ende haben werde …
Eine Woche nach Beginn der Werbekampagne meldet Caspar die ersten Vertragsabschlüsse, und Jott Er, der Vorsitzende der Verwaltungsgruppe, verbucht die erste Million auf dem eigens eingerichteten Projektkonto. Nach zwei Wochen sind sämtliche Wohneinheiten verkauft und nach drei Wochen doppelt und dreifach. Nach vier Wochen schließen sich vor dem Haus am Fluss Handschellen um die Handgelenke Caspars, des Klassenclowns, als er versucht, das Penthouse auf dem Dach ein fünftes Mal zu verkaufen. Seine Kunden entpuppen sich als Stadtbaubeamtin und als Polizist, die Wind von der Sache bekommen hatten und ihr auf den Grund gehen wollten. Sie witterten Betrug, und sie werden nicht enttäuscht: Der Projektleiter, Lehrer Nurgut, ist über Nacht wie vom Erdboden verschluckt, das Projektkonto geplündert, alle Spuren, bis auf eine handschriftliche Notiz, verwischt, ein Zettel auf dem Lehrerpult mit der Nachricht: „Hallo Kinder, lasst euch das eine Lehre sein!“