Meister Sakul

»Zieh den Scheiß einfach«, blökte Meister Sakul mit halb geöffneten, geschwollenen Augenschlitzen. »Wenn du dich hinrichten willst, dann mach doch«, sagte ich. Das würde einfach abscheulich werden in unserem Zustand. Tödlich. Keine Nacht für solche Präparate. Irrsinn. Wir diskutierten eine Ewigkeit, ziemlich sicher waren es ein paar Minuten. Rauchten, ließen die Fenster geschlossen und tranken Asbach. Ich ging mich erleichtern und schlug die Tür hinter mir zu. Was sollte noch werden bis zum Morgen, wenn der Zeitmesser  gedrückt wird und der Rekord wieder nicht gebrochen? Was für eine grausame Vorstellung, unabwendbar zwar, aber einfach grausam, daran jetzt einen Gedanken zu verschwenden. Reiß dich zusammen Störk, geh nicht aus dem Leim, schlag dem Morgen und dem Übermorgen und den ewigen Werbungseinlagen mit Reinigungsmitteln und Versicherungen ein Schnippchen oder zwei. Schizoide Bilder des himmlischen Endkampfs pochten an die Tür meines geistigen Auges. Ich fegte sie fort und stopselte zurück, mit dem festen Entschluss den Scheiß einfach zu ziehen. Gefährliches Zeug. Es kam wie es musste: Sakul hing über dem Haufen und stopfte sich den Scheiß ins Nasenloch. Das hielt doch kein Mensch aus. Er gröhlte laut auf und warf den Nacken in Falten. Strahlen gebündelter Energie schossen ihm aus den Nasenlöchern und versengten den Teppichboden. Mit dem Wahngott selbst in den Augen starrte er mich an und fackelte die ganze Garnitur ab. Stichflammen zischten aus den Schubladen. Er riss die Lider noch weiter auf und die Fensterscheiben platzten mit einem Donnern aus der Fassung.

»Du Hurensohn!«, schrie ich ihm entgegen. »Du bringst uns noch um!«

In dem Moment war der Spuk vorbei. Was für ein Idiot. Er keuchte vor Erschöpfung, dann war er voll da und lachte kreischend wie ein kleines Mädchen.

»Hahahahahahast du das gesehen?«

Klar hatte ich. Die Bude stand in Flammen.

»MIR IST SCHEISSKALT!«

Meister Sakul sprang mit einem großen Satz zum Feuer am Einbauschrank, der war vollgestellt mit Büchern und einzelnen abgestandenen Bieren die sicher schon stanken. Die Kronkorken wellten sich. Darunter erkannte ich eine deutsche Ausgabe der Commedia. Phaidon. Ich hechtete, fischte sie aus der Brunst und trat Sakul vors Gesicht, dass er sich nicht bei lebendigem Leibe verbrannte. Resolut schmetterte ich das Buch auf den Boden, der Plastikeinband hatte schon angefangen zu schmelzen, und trat drauf so fest ich konnte. Das half nicht. Ich schnappte mir die erstbeste Flasche und hielt sie kopfüber auf die Commedia. Es war der Asbach. Das kostete mich die rechte Augenbraue. Um uns herum wurde es immer lauter, der Rauch stieg aus dem Fenster.

»Sieh nur, was du uns eingebrockt hast!«, rief ich über das konstante Rauschen des Feuers hinweg. »Du Kotzbrocken! Ruf die Feuerwehr! Aber bloß nicht die Bullen! Nicht die Bullen! Dafür kriegen wir die Giftspritze!«

Er hantierte auf dem Hosenboden sitzend herum. Zwecklos. Ich hatte keine Wahl. Ich machte den Hosenstall auf und drückte mir das letzte Bisschen Bier raus. Hier bekam man nicht die Giftspritze. Das Buch war gelöscht.

»Was war das überhaupt für ein Scheiß?«

»DAS IST AUS DEM IRAK!«, brüllte er, dass man es noch in München hören konnte. Ich stopfte die Commedia in meine Jackentasche und zog sie zu. Meine Hosentasche vibrierte. Ich nahm ab. »JA?!«, stieß ich heraus. Verdammt, war dieses Fichtenholz laut. Es krachte und knisterte, dass man den Verstand verlieren konnte. Die Decke fing an schwarz zu werden.

»Feuerwehr Regensburg. Um was geht es?«, sagte eine entspannte Männerstimme am anderen Ende.

»Na sie haben doch angerufen!«

»In welchem Stockwerk befinden sie sich?«

Ich ging zum Fensterloch und sah nach.

»Glaube im dritten!«

»Sind sie sich nicht sicher?«

»Nein, könnte auch der Vierte sein! Hören sie mal-«

»Ist das Fichtenholz, das brennt?«

»Ja, aber-«

»Wir sind unterwegs!« Er legte auf.

Ich stopfte das Telefon zurück in die Tasche und machte mir das Hemd auf. Was für eine Hitze.

»LASS UNS IN DIE STADT GEHEN!«, rief der Meister vom Boden. Ich musste ein brennenden Brett wegkicken, das er aufheben wollte. »Eher bleibe ich hier mit dir! Ich begeb mich doch jetzt nicht unter Leute! In deinem Zustand! Du bringst jemanden um!«

»LASS UNS JEMANDEN UMBRINGEN!«

Sakul fand die Kraft aufzustehen und rauschte an mir vorbei, durch die Diele und fiel die Treppen runter. Ich kam gerade so hinterher und sah noch, wie er sich unten angekommen seine Jacke vom Ständer suchte. Ein Blick zurück sagte mir, dass die Wohnung nicht zu retten war. Ich prüfte, ob das Buch noch in meiner Jackentasche war und drehte den Schlüssel drei mal um.

Jemand musste ihn aufhalten.

Drei Gassen weiter hörten wir die Sirenen. Ich hatte Sakul an meinen starken Arm gekettet. Zum Glück war er vom ersten Schock runtergekommen. Keine Chance sich vor der Justiz zu verstecken, dachte ich. Oder vor der Feuerwehr. Wachmeisterköter mit dem Daumen am Mercedeslenkrad, ihre Verachtung für so gefährliche chemische Experimente wie wir welche waren im Anschlag würden uns verfolgen. Vielleicht würden sie uns die Brandstiftung verzeihen, aber nicht das was der wildgewordene Koch an meiner Rechten noch anstellen wird, wenn ich nicht aufpasse. Meine Güte, dieser dritte Stock. Oder vierte. Was war der schon wert. Unkalkulierbarer Schwund. Hätte ja ein Kleinstadtkrimineller abfackeln können, weil der Anwohner Wettschulden hatte. Konnte ja niemand wissen, dass wir nicht wetteten. Nicht aus Prinzip, sondern aus Geldmangel. Nichts zu investieren. Aber genug zu verlieren. Was würden mir für hunderte Filme durch die Latten gehen, wenn ich jetzt weggesperrt werde. Vier Uhr. Die Zeit lief uns davon – nicht daran denken. Irgendwo saßen Ebenbilder von uns in einem Geräteschuppen im nassen Stiefeldreck und gaben sich den letzten Schuss des Abends. Könnte schlimmer sein.

»Reden die einen süditalienischen Dialekt. Sag mal.«

Sakuls leerer Blick verhakte sich in ein vorbeilaufendes Paar. Zwei Männer.

»Ja, das passiert manchmal um diese Jahreszeit«, sagte ich.

Bilder von einer Platonbüste irgendwo in Athener Marmorfluchten tauchten vor mir auf. Doktor Faustus steht davor und Platon spuckt ihm entgegen: »Philosophieren ist wie Sterben.« Schauderlich.

»Er hätte ihn auch nicht retten können«, sagte Sakul nebenbei, als wäre es garnichts ungewöhnliches, meine Gedanken zu lesen. »Nicht vor diesem verdammten Mephistopheles.«

Die Haare auf dem Armen stellten sich mir auf. Warum wusste er, was ich dachte?

»Was war das überhaupt für ein Scheiß?«, fragte ich.

»Ach, das ist aus dem Irak. Fällt da unter irgend eine Sprengwaffenverordnung. Geheime Sache. Frag mich nicht. Hast du noch Schnaps?«

Er griff mir unwillkürlich in die Jackentasche und bekam die Commedia zu fassen. »Lass das, Arsch«, zischelte ich und schlug ihm auf die Finger. Hoffentlich jagte der Scheiß nicht die ganze Straße in die Luft, den wir liegengelassen haben. Weiß der Teufel, wie das auf Hitze reagiert. Oder die halbe Stadt. Geradeausdenken.

Vielleicht sollte ich ihm kaltes Wasser rüberschütten. Oder mir. Vielleicht war ich ja unkontrollierbar. Sakul kam mir plötzlich so nüchtern vor. Ich gab mir eine Ohrfeige und hielt noch die andere Backe hin. Keiner schlug zu. Er fing an irgend eine Melodie zu pfeifen, die mir bekannt vor kam. Wir bogen um die Ecke und ich stimmte ein.

Kurz darauf fanden wir uns wider jeder Vernunft in einem gefüllten Lokal wieder und bestellten Single Malt Scotch. Nach fünf Minuten des Waffenstillstandes sagte der Meister, einen letzten Schluck gurgelnd: »So.« – er schluckte – »Jetzt bringen wir jemanden um!« Und er schlug auf die Theke mit seinen Kochpratzen, sehnig und fest vom Gemüsehacken und Saitenschlagen, dass sämtliche Flaschen und Gläser auf dem Tresen den Halt verloren und zu Bruch gingen. Er war nicht kräftig, das waren Österreicher nie. Das musste dieses irakische Plutonium sein.

»Das werdet ihr alles bezahlen!« Die stämmige Barfrau kam hervorgeschossen. Sie hielt einen langen Glassplitter in der Hand. Ich wollte etwas sagen, aber Sakul flüsterte mir laut hörbar ins Ohr, ob er sie umbringen sollte. Er mache das ganz schnell, dann verpissen wir uns. »Garkein Problem«, sagte ich, um ihn zu übertönen. Ich knallte alles auf den Tisch was ich hatte. Zwei oder drei größere Scheine. »Wartet mal.« Wir gingen, und kaum waren wir vor der Tür, war die Musik zu Ende und lautes Gesplitter und Gekreische kam von hinten. Eine Frau. Sie schrie jemanden an, warum er sowas behaupte und dass er ein Hurensohn sei. Wieder splitterte ein Glas. Nur raus hier. Ich überlegte, ob wir uns in irgend einer Spielhölle verkriechen sollten. Sonst würden wir noch draufgehen.

Zwei Tauben schissen den Stadtplatz voll.

Wir landeten in einer einsamen Einkaufspassage. Schuhgeschäfte, Ballkleider, Krankenhauslicht. Nicht mehr weit vom Geräteschuppen entfernt. Halb 6 sagte der Chronometer. Bald ging die Sonne auf und wir hatten einen Scheiß erreicht.

»Scheiße«, brachte Sakul heraus und kotzte Asbach. Wir setzten uns eine Bank tiefer in die Passage.

»Stell dir vor, die Nacht ist gelaufen. Bald kaufen hier irgendwelche Wichser Schuhe.«

»Ist heute Sonntag?«, fragte der Meister. Es war Freitag. Das heißt Samstag.

Auf ein mal hatte er wieder diese Augen. Er zog saugend an seiner Zigarette und blies den Rauch aus den Nasenlöchern wie ein Drache aus einem Rittermärchen. »Hahahahaha!« Er bekam sich nicht mehr ein.

»ICH KRIEG BEIM AUSATMEN KEINE LUFT MEHR!«

Bevor ich etwas sagen konnte, kamen da diese Schritte. Das Plutonium kochte in Sakul hoch. Rauch stieg ihm einfach so aus der Nase. Ich machte mich auf alles gefasst. Endkampf. Der nie zum Engel gewordene Ikarus schnellt im Kamikazesturzflug auf die Heerschaaren des Bösen herunter, nur mit seinen Fingernägeln bewaffnet.

Es waren drei Türkendeutsche mit Pelzkapuzen. Volltrunken von Energizergemisch. Sie hätten deutscher nicht sein können.

Sakul nahm einen Zwei-Zentimeter-Zug von seiner Kippe und stand auf. Jetzt war es unvermeidlich, dachte ich. Aber er stand nur da und schaute und aus seiner Nase stieg eine Unmenge Rauch.

»He!«, plärrte der mittelgroße von den dreien. Er war am besten frisiert.

»Was macht ihr hier?!«

Ich witterte eine letzte Möglichkeit, den Zusammenprall zu verhindern. »Und ihr?«, fragte ich nicht zu höflich.

»Ich wohn‘ hier! Verpisst euch!«, rief ein anderer. Sakuls Augen wurden groß. Tut das nicht, flehte ich in mich rein. Fasst ihn bloß nicht an. Sie wussten nicht, worauf sie sich da einließen. Keine Ahnung.

»Lasst es bleiben!«, schrie ich in einem ungemäß kleinen Anflug von Verzweiflung.

Sie kamen schnurgerade auf den Koch zu. Keine Ausweichmöglichkeit. Der Gang war einfach zu eng. »WAS?!«, brüllte der Größte und war bald da. Er holte schon aus. Es sollte ein rechter Schwinger werden. Ich saß unbeweglich auf der Bank. Die drei mit ihrem osmanischen Temperament und den gleichen Jacken hatten heute Nacht sicher schon einige Banksitzer umgehauen. Wir sollten die letzten werden.

Meister Sakul war nicht stark, oder groß, oder schnell. Aber er war schnaubend auf den Einfall der Osmanen gefasst. Er hatte die gefährliche Fehleinschätzung von Adolf Hitler, Österreicher war er ja. Ergebnis von jahrelangen Testreihen. Es war aus. Mephisto hatte uns am Kragen. Ich dachte kurz, der Boden würde Risse bekommen. Meine Augenbraue tat weh.

Dann ging alles schnell.

Sakul riss einen Feuerlöscher am Schlauch in einem Rutsch aus dem Putz heraus. Er holte aus wie ein berittener Kreuzritter mit einem Morgenstern. Er erwischte den Kerl mit einer aberwitzigen Geschwindigkeit am Ohr. Er fiel um wie ein Blatt im Oktober. Nur war es für ihn noch zu früh. Sein Gesicht splitterte und es trieb ihm das Jochbein ins Hirn. Er war sofort tot.

Sakul schnaubte wie ein riesiger Deckhengst. Er ließ den verbeulten Metallklumpen sofort fallen und stieg über den Typen hinweg. Die anderen beiden hatten in ihrem Rausch noch nicht wahrgenommen, was passiert war. Er bekam sie gleichzeitig mit chirurgischer Präzision an der Kehle zu fassen. Der eine wand sich und verpasste ihm einen kräftigen Schlag auf die Stirn.

»Heeeeh!« schrie der andere und trat ihm, noch halb im Lauf, auf die Kniescheibe. Noch eine Gerade. Sie verirrte sich und brach Sakul die Nase quer durch. Er drückte zu. Steckte in den Magen und auf die Brust ein. Es rauchte ganz schön. Er hatte ihre Luftröhren im Griff. Nach einer halben Sekunde, in der garnichts zu passieren schien konnte man sehen, wie er die Finger dahinter schloss. Sakul blieb so stehen. Sie wehrten sich nicht mehr. Sie drehten die Augen nach innen und zuckten epileptisch. Es kam noch mal ein Schlag von einem. Dann war Ruhe. Er drückte nochmal fester zu, bevor er sie fallen ließ. Ihre Köpfe knallten auf den Fließenboden. Der Koch röchelte kurz Luft in sich rein und beugte sich dann, um munter darauf einzuschlagen.

Ich griff in meine Jacke. Die Commedia war noch da. Ich saß rum und sah zu. Bei dem einen hörte er erst auf, als sich das Ohr vom Rest löste. Die Haut war aufgeweicht. Er drehte sich um.

»SCHAU MAL!« Er ließ das Ohr umherbaumeln. Der andere Osmane keuchte. Er bekam den Stiefel ins Gesicht und war ruhig. Dann war es vorbei. Sakul kicherte und kam her.

»Jetzt hast du es geschafft«, sagte ich vorwurfsvoll.

»LASS UNS WAS ESSEN GEHEN!«, schrie er.

»Du hast den Verstand verloren. Völlig den Verstand verloren.«

Meine Hosentasche vibrierte. Ich zog das Telefon raus und nahm ab. Eine Frauenstimme.

»Polizei Regensburg. Was kann ich für sie tun?«

Kaum zu fassen. Was für eine Scheiße. Ich hatte genug. Ich schmiss das Telefon in den Mülleimer und packte Sakul am Arm.

»Komm«, sagte ich.

Wir gingen rüber ins Parkhaus und verschanzten uns in einem nicht abgesperrten Wagen. Sakul schnallte sich mit vorfreudigem Blick an. »Ich will was rauchen!« Er war wieder etwas beruhigt, aber ihm kam immer noch Dunst aus der schiefgeschlagenen Nase. »Du Vollidiot«, setzte er noch dazu. Ich atmete durch und versuchte nicht an den Tod zu denken. Sie wussten nicht was sie tun. Selbst schuld. Das Parkdeck leuchtete. Ich drückte auf den Zeitmesser. Die Commedia schlummerte in meiner Tasche.

»Lass uns was Essen gehen«, sagte ich.

 



Bücher von Johannes Fightestörk:


Sinthom

Fightestörk

Toxikophiler. Bedroht Leute mit Waffenzeitschriften und stochert seine Beine in die Welt, bis ihm die Sohlen platzen. Lebt am rotäugigen Abgrund und fährt meistens zu schnell. Träumt tagsüber von Sintfluten, nachts trinkt er. WWW: sneakblog.de und facebook.com/Fightestoerk

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