Senile Bettflucht
Sam Beckett ließ sich sein Erstaunen nicht anmerken, als ein neuer Pfleger seine „Wellnessoase“ im Pariser Altenheim betrat und sich als ein gewisser Jemand mit Namen Godot vorstellte. Schließlich, beruhigte sich der Alte und schenkte sich einen doppelten Whisky nach, schließlich unterscheiden sich die Menschen vom Schimpansen nur in etwa einem Prozent voneinander.
Zur selben Zeit in Berlin, unter einem ungünstigen Stern im Spandauer Kriegsverbrechergefängnis: Rudi Hess bangte mal wieder um sein Leben, er fürchtete vergiftet zu werden, als ihm ein neuer Wärter namens Hitler, ausgerechnet ein sowjetischer Gefreiter, das Mittagessen in die Zelle brachte. Führers Vize spielte daraufhin die Rolle seines Lebens: nicht die des Stellvertreters seines Diktators, wie man hätte vermuten müssen, sondern die Rolle des Hypochonders, des eingebildeten Kranken. Mit Lust und Laune gab er sich Magenkrämpfen hin, er krümmte sich auf seiner Kriegsverbrecherpritsche und stöhnte wie ein alter Mann nur stöhnen kann. Dann, wieder allein, ohne Publikum, ohne Applaus, machte er sich über das Essen her, über zwei Scheiben Kommissbrot mit Margarine und Marmelade, über ein wehrloses Kännchen kalten Kaffee. Nach der Mahlzeit widmete er sich wie jeden Tag der Abfassung eines Knigges für Kriegszeiten, eines Anstandsbuches für Völkermörder. Das Kapitel „Der gute Ton in der Gaskammer“ bereitete ihm Kopfzerbrechen, ein Stoff, der immer wieder aus der Form fiel. Ich habe, raunte Rudi zu seinem inneren Führer, einem kleinen Stutzbartprimaten hinter seiner Stirn, gerade zu Mittag gegessen. Verlange also niemand einen zusammenhängenden Satz von mir!
Den Korridor, sprach Beckett zu Godot, regiert der Gestank der anderen. Der Pfleger präzisierte: der Leichengestank.
Blumen gießen, munterte sich Hess auf, ich muss die Blumen gießen, ehe es zu regnen beginnt. Es nahte die Hofzeit, und Hofzeit war Rabattenzeit.
Für ein gutes Leben war ich mir nie zu schade, sagte Beckett und reichte seinem neuen Pfleger ein volles Whiskyglas. Lass uns lachen, lachte er, bis uns das Lachen vergeht, bis uns das Lachen im Hals stecken bleibt! Denn früher oder später kriegt das Leben jeden von uns klein.
Derweil goss im Spandauer Gefängnisgarten Gefühlsgermane Hess seine Stiefmütterchen. Kleine Gedanken, nicht viel größer als Ratten, nagten in seinem Kopf: Ich schließe Tür um Tür, um mir den Lärm des Lebens vom Hals zu halten, Tür um Tür im Lärmen des Lebens. Und nach einer Weile schnarrte er zu seinem inneren Führer: Es geht mir so … du weißt schon. Und dann mähte er und mähte: sommers den Rasen, winters den Schnee, und die Last des Lebens lähmte seine Bewegungen.
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Rüdiger Saß:
Das nervöse Zeitalter: oder Literatur zum Kilopreis