Es ist nicht das, wonach es aussieht

Geschichten, die man versteht,
sind nur schlecht erzählt.
– Bertolt Brecht –

Es ist nicht das, wonach es aussieht

Aufgesang

(handelnde Person: die Stimme der Vernunft):

Frostbeulen, Schneegestöber, Glatteis: Machen wir uns nichts vor, der Sommer ist vorbei! Ständig laufen Leute durchs Bild, durch flüchtige Stadtlandschaften: Schlag-, Scheiß- und Pisspenaten, Zitterneurotiker, gelegentlich auch rechtschaffene Verbrecher. Vorherrschend aber sind Vertreter der Spezies der Daseinsüberforderten: Pappkameraden, Subtypen in den Fängen fremder Einflüsse, zerbrechliche, zerbrochene Seelen in zerschlissenen Nervenkostümen, Bewegungen mit Fluchtcharakter, stolpernd, stürzend, sich Gesicht und Geist aufschlagend, Furchtverhaltensformen, Schneisen durchs Daseinsdickicht schlagend, allen Umständen unter allen Umständen aus dem Wege gehend, stolpernd, stürzend … Manche Menschen sollten ab einer gewissen Außentemperatur in ihren Zimmern eingeschlossen werden … Ein Festpreishengst schnaubt, wiehert und spielt mit den Mienen eines Geldeintreibers, der Brille und Gebiss vergessen hat. Welch ein Leben, immer von Ruhe zu träumen, und sie noch nicht einmal auf dem Klo zu finden! Die Ketten moderner Sklaven klirren nicht. Sie sind geölt mit dem Fett ihrer Feigheit und Trägheit. Jeder Schlag des Sekundenzeigers ein exakt vermessener Abschied, ein Sprung vom Planquadrat des Lebens. Jeder Regentropfen eine Träne, jeder Eiskristall ein zerbrochener Traum, erstarrte Angst und Ausweglosigkeit. Tote fallen vom Himmel, Kompost und Kadaver. Der Rest ist Kinderspiel. Der Rest dreht sich wie ein Kreisel. Man muss ihm nur Schwung und Richtung geben …

Wir kreuzen die Klingen unserer Stimmen, der  Festpreishengst und meine Kleinigkeit. Die heilige Einfalt spricht durch diesen Hengst: platzende Phrasenblasen, Sprachgestrüpp einer schwächelnden, inkontinenten Vernunft. Der Hengst schnaubt etwas, das meine Kleinigkeit vernichten soll, doch die hat keinen Namen zu verlieren, weil sie keinen hat. Da stehen sich zwei Wildfremde gegenüber und schmieren sich gegenseitig Schmalz in die Ohren, bewerfen sich gegenseitig mit Beleidigungen. In Frust und Hass vereint, erstürmen sie einen Gipfel der Neurosen nach dem anderen. Doch es kommt nicht, wie es kommen müsste, es kommt, der Feigheit sei Dank, nicht zu handfester Gewalt. Bevor jeder von uns beiden wieder in die Sümpfe seiner jeweiligen Bedeutungslosigkeiten abtaucht, gebe ich dem Festpreishengst den dringenden Rat, nicht älter zu werden, denn das nehme kein gutes Ende.

Nun, ich fühle mich fieberfrei, auch wenn ich nicht so klinge. Dennoch kann heute niemand auf mich zählen, nicht auf Mitleid, Hilfe noch Verständnis …

Kalenderphilosophen, in den Fängen der Einfallslosigkeit zappelnd, führen gelehrte Unterhaltungen über den Gebrauch des Konjunktivs an deutschen Fleisch- und Frischetheken. Studenten der Schwachsinnigen Wissenschaften, Hirnsturmgeschädigte krempeln die Ärmel ihrer Blödheit auf, schnarchartige Halbweisheiten machen die Runde, Wahnwahrheiten auf den Achterbahnen schlimmer Stimmen…

 

Jungfer Krachmann, eine Prinzessin mit dem Charme einer Kuhmagd, war verliebt in ein Schwein, in einen Baum … Jetzt dreht sie am Rad. Noch eine, der nichts schnell genug gehen kann. Ein Herzinfarkt oder Schlaganfall würde ihr gut zu Gesicht stehen. Die einzige, die ihrer Gesangskarriere im Weg steht, ist ihre Stimme. Ist es Musik, wird sie immer wieder gefragt, oder ist es ein Staubsauger? Keine Sehnsucht mehr im Blick, kein Schwein und keine Kuh, zupft die Prinzessin ihre Frisur zurecht, als ob das noch etwas helfen, etwas retten würde. Dann schwimmt sie aus dem Haus hinaus ins Leben und verschönert Wahlplakate mit Hitlerbärten und Konsorten. Noch schlafen die Baustellen, noch gähnen die Gehwege und reiben den Schlaf aus den Straßen, und nur die Soldaten marschieren mit Gesang und klingendem Spiel in den Tod hinaus. Jungfer Krachmann winkt ihnen weinend Beifall, bis die Schatten der Soldaten schwinden, bis sie sich im Sand verlaufen …

 

Abgesang:

Eine Kackwurst fährt Motorrad, und dann noch eine und noch eine … Familienfürsten surfen auf Bierschaumkronen auf den Sonnenuntergang des Erinnerungsverlusts zu, Herren mit Meinungshoheit im Halfter, Weltverwässerer und Kaffeesatzpropheten mit wundgescheuerten, geschwollenen Egos verlieren sich im Gesprächsdickicht, Kleinlichkeitskrämer werfen mit politischen Nebelkerzen um sich wie ihr großes Vorbild, der eiernde Kanzler, Schwimmpansen, immer am Rad des Ruins entlangsurfend, geben einem Hauch von Geilheit nach. Sie ficken und feiern, als ob es kein Morgen gäbe. Sie besteigen Treppen wie Berge, wie Hornvieh, schwersten Schrittes. Sie schlagen Türen mit aller Kraft zu: Analphabeten, die nicht bloß Bücher, sondern Verkaufsschlager schreiben. Sie geben ganz so wie ihr eiernder Kanzler Versprechungen, deren Verwirklichungsspielräume schwarzen Löchern gleichen. Und es wäre für alle das Beste, wenn sie zum Lachen in den Wald oder in die Wüste gingen.

Rüdiger Saß

geboren 1966 | Wohnhaft in Hamburg | Soziologe | zuletzt erschienen: Sein letztes Lächeln, Container Press, Walheim, 2020. Siehe auch www.myspace.com/leereimer - Noch zu haben: Nachtstühle - Erzählungen und Prosa

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