Der Bücherfreund
Herr Staubich hasste Barbaren. Dazu gehörten für ihn Fernsehsüchtige, Kinogänger, Leser von Schund- und Trivialliteratur sowie Jazzhörer, und natürlich alle jungen Menschen, auch dann, wenn sie keine Popmusik hörten.
Wenn er einmal zu einer Feier eingeladen wurde, was, wie sich Herr Staubig eingestand, selten vorkam, dann graute ihm schon tagelang vorher vor den Unwissenden, vor diesen Untermenschen, die gute Bücher nicht zu schätzen wußten. Anderen Personen, die für die Werte des Lebens kein rechtes Auge mehr hatten, mochten sie nicht sofort auffallen – er aber brauchte sich nur wenige Minuten mit einem der Vergnügungssüchtigen zu unterhalten, und schon wußte er: Das ist so einer, das ist ein Barbar.
Aber es überraschte ihn selten, denn Herr Staubich wußte in der Regel schon nach einem Blick in das Gesicht seines Gegenüber, daß er einen minderen Menschen vor sich hatte, und dann ahnte er bereits, daß ihm ein entsetzlich schales und dummes Gespräch bevorstand.
Doch Herr Staubich war ein höflicher Zuhörer. Geduldig ignorierte er die Einfältigkeit des Anderen, nickte hin und wieder verständnisvoll mit dem Kopf und ließ all das bunte und laute Gewäsch über Fernsehsendungen, Kinofilme, Jazzmusik und schlechte Bücher langmütig über sich ergehen.
Danach verfolgte ihn der Ekel oft noch tagelang, denn Herr Staubich war von diesen Menschen sehr angewidert. Nur gut, daß Zuhause seine Welt auf ihn wartete: Die Welt der Bücher, sauber sortiert in tiefe Regalfächer aus dunklem Holz.
Auf seine Welt konnte sich Herr Staubich, der tagsüber in einem Amt arbeitete, stets freuen. Er wußte, daß Sachbearbeiter zu sein ihn nicht in den Kreis besonders herausragender Persönlichkeiten der Zeitgeschichte hob. Aber seine Bücher, die schon. Die machten ihn zum Auserwählten, zu Harald Staubich, dem Freund der Bücher.
Man könnte auch sagen, dachte er zufrieden bei sich, Harald Staubich, the books best friend, und dabei tätschelte er liebevoll einen Stapel englischsprachiger Literatur. Sicher, sein Englisch war nicht das Beste, eigentlich sogar sehr schlecht; aber schließlich haben wir damals noch nicht Englisch lernen dürfen, dachte Herr Staubich, im Gegensatz zu den jungen Leuten heute, die nur Popmusik hören und alles auf goldenen Tabletts serviert bekommen.
Wenigstens war er auf diese Weise nicht auf Übersetzungen angewiesen, von denen man hörte, daß sie so schlecht seien. Und von den großen Werken eines Shakespeare oder James Joyce mußte man schließlich die Originale besitzen. Und eines Tages würde er sie sicher auch lesen, vielleicht schon im nächsten Urlaub. Ja, da hätte er viel Zeit und könnte sich an seinem Schreibtisch mit Finnegans Wake befassen.
Es gab nur ein Regal, in dem auch eine Pflanze leben durfte. Es handelte sich dabei um einen Sukkulenten, der auf einem Stein wurzelte und der nur eine der vielen pflegeleichten Pflanzen war, die Herr Staubich so schätze. Dieses Regal beherbergte die philosophischen Werke, zum Teil sehr alte Bücher, schöne antiquarische Ausgaben, die erstaunlich gut erhalten waren.
Nietzsche gesellte sich dort zu Kant, Epikur zu Schopenhauer, Meister Eckart zu Albert Camus. Wie gut, dachte sich Herr Staubich, als er seine stolze Sammlung besah, wie gut, daß ich nicht festgefahren bin, sondern mit vielfältigen Interessen gesegnet.
Herr Staubich blies ein paar Flusen von den philosophischen Werken. Sie standen im obersten Regalfach und staubten deswegen leicht ein. Da hatten es die Gedichtbände im Fach darunter schon besser: Gleich ob Edda oder Erich Fried, ob Goethe oder Shakespeare – hier ließ sich der Schmutz nicht so schnell nieder.
Herr Staubich bewunderte die Dichter, sah in ihren Versen Werke von ewigem Wert, auch wenn er bedauerte, daß so viele alte Dichtungen unverständlich fern waren und die zeitgenössischen Poeten sich nur plump auszudrücken verstanden.
In einem anderen Regal hob er vor allem Romane auf. Auf die Ordnung in diesen Fächern war er besonders stolz, denn sie war durchdacht und wirkte dabei doch unordentlich und zufällig. Geschickt hatte er hier Joyce neben Edgar Allen Poe gestellt und zwischen den Bänden von Kafka auch ein paar weniger bekannte und – Herr Staubich machte sich da nichts vor, auch wenn diese Bände ihm persönlich sehr gut gefallen hatten – weniger anerkannte Schriftsteller plaziert.
Dieses Regal bot keinen Platz für große Bände, es enthielt dementsprechend nur Taschenbücher, Harald Staubichs Tribut an sein bescheidenes Einkommen, welches ihm nur sehr selten gestatte, eine wertvoller gestaltete Ausgabe zu erstehen. Andererseits ließen sich in dem niedrigen Regal hinter den anspruchsvollen Autoren gut die Science-Fiction-Bände lagern, die er in seiner Jugend so geliebt hatte, und von denen er sich wohl nur deswegen nicht getrennt hatte, weil er die Meinung vertrat, daß man Bücher nicht wegwerfen dürfe; auch schlechte nicht.
Eigentlich könnter er sie ja seinem Enkel schenken, dachte er. Diese junge Kerl täte zwar besser daran, gute Literatur zu lesen als diesen Schund, aber das konnte man den jungen Leuten ohnehin nie begreiflich machen. Statt dessen mußte man froh sein, daß sie überhaupt noch lasen und sich nicht ausschließlich mit Videospielen beschäftigen.
Herr Staubich konnte nie ganz verstehen, was die jungen Leute an den künstlichen Welten der Videospiele fanden. Dann bildete sich eine Falte in seiner Stirn, und er rückte die gebundene Ausgabe vom Herrn der Ringe zurecht, die sogar einige Karten zu Mittelerde enthielt. Anschließend sah er auf seine Uhr.
Zeit, ins Bett zu gehen, sagte sich Herr Staubich. Und als er die Tür seiner kleinen Bibliothek hinter sich schloß, hörte er seine Bücher kurz miteinander tuscheln.