Unternehmen Vlad
Als mein Vater erfuhr, dass sie Prostituierte in Hahnenkostüme steckten und solange kämpfen ließen, bis eine tot war, ging er im Dachboden zwei Stunden lang im Kreis, kam dann zurück ins Wohnzimmer, telefonierte kurz, schnappte sich seine Aktentasche, gab meiner Mutter einen Kuss und nahm mich bei der Hand. Auf dem Weg zur Garage erklärte er mir, dass es Zeit war, die Welt kennen zu lernen und dass sich heute die Gelegenheit ergab, mich auf meinen künftigen Job vorzubereiten. Weil ich noch nicht volljährig war und er sich als Einsatzleiter strenger an das Gesetz halten musste als jeder andere, kam Waffengebrauch für mich nicht in Frage, aber er deutete mit dem Daumen über die Schulter auf einen für mich bestimmten rechteckigen, weißen Karton auf dem Rücksitz. Ich sah, dass neben dem Karton zwei Farbdosen standen, von denen die eine rote, die andere schwarze Farbe enthielt. Aus einem zwischen die Dosen geklemmten Plastiksack ragten zwei Pinsel hervor. Ich war einerseits stolz, dass mein Vater mich an diesem Einsatz teilnehmen ließ, andererseits befürchtete ich, dass es lebensgefährlich werden könnte, selbst wenn ich nur als Künstler mitwirkte. Natürlich nahm ich nicht an, dass ich ein Gemälde herstellen sollte, aber der Auftrag, den ich bekam und den ich im Büro hinter dem Versammlungsraum ausführte, während mein Vater mit seinen Leuten den Einsatzplan durchging, verlangte zumindest einen sicheren Umgang mit Pinsel und Farbe und ein gutes Gefühl für Raumaufteilung. Ich machte ein paar Probestriche auf einem Blatt Papier, bevor ich mich entschied, den Untergrund schwarz und die Schrift rot auszuführen. Ich wurde gerade zum richtigen Zeitpunkt fertig, als mein Vater den Code-Namen des Einsatzes bekannt gab. Als hätten wir die Aktion einige Male geprobt, hob ich das Schild in die Höhe, und mein Vater konnte darauf deuten, während er den von mir geschriebenen Code-Namen schrie: „Unternehmen Vlad“. Das Raunen, welches durch den Raum ging, war Beweis für mich, dass mein Schild bei der Einsatztruppe auf Anerkennung stieß. Eine Frau meldete sich mit einem Lob zu Wort, doch als sie beginnen wollte, die Qualitäten meiner Arbeit näher zu analysieren, unterbrach sie mein Vater, da ab jetzt das Unternehmen lief und die Gegner keine Sekunde Vorsprung bekommen durften. Ich kannte den Ruf meines Vaters, und ich wusste, dass er tatsächlich hart sein konnte, trotzdem war ich überrascht von der Kompromisslosigkeit seiner Vorgangsweise. Eine Spielhölle nach der anderen wurde gestürmt, schwer bewaffnete Leibwächter mussten sich auf den Boden legen, Zuhälter wurden an die Wand gestellt und nach Waffen durchsucht, nackte und halbnackte Frauen liefen kreischend durch Gänge. Es gab massenweise Verhaftungen, und jeder Zeuge hätte die Aktion als durchschlagenden Erfolg werten müssen. Aber ich konnte nach mehreren Razzien im Gesicht meines Vaters erkennen, dass er beunruhigt war. Keiner jener vermeintlich so weit verbreitet und zu jeder Zeit stattfindenden Hahnenkämpfe war entdeckt worden. Er setzte sich auf einen der herumstehenden Plüschsessel und dachte nach, dann ließ er die nackten Frauen vorführen. Eine nach der anderen musste sich vor ihn auf einen Stuhl setzen und wurde von ihm verhört. Allerdings brachten ihre Aussagen keine brauchbaren Hinweise. Als klar wurde, dass die Operation nicht in der geplanten Zeit abgeschlossen werden konnte, rief er meine Mutter an und teilte ihr mit, dass sie nicht auf uns zu warten brauche. Anscheinend stellte sie die Frage, ob ich ebenfalls bleiben müsse, denn er reagierte gereizt mit der Bemerkung, dass es schließlich auch um meine Zukunft ginge. Dabei sah er mich an, und ich nickte ihm zu. Das Telefonat trug nicht zu seiner Beruhigung bei, im Gegenteil, er steckte das Handy mit einer wütenden Geste in seine Tasche zurück, und ich hatte den Eindruck, dass er es sogar noch kurz vorher ausgeschaltet hatte. Dann zögerte er kurz, öffnete seine Aktentasche, holte ein Ringbuch heraus und reichte es mir mit dem Auftrag, Skizzen von allen wichtigen Vorkommnissen zu machen. In meiner ersten Skizze hielt ich das Verhör einer nackten Prostituierten fest. Diese saß nach vorn gebeugt auf der Stuhlkante und hatte die Unterarme auf ihre Oberschenkel gestützt. Schon aus der Skizze ging hervor, dass aus ihr nichts herauszuholen war. Zwei weitere Verhöre fanden statt, die ich ebenfalls darstellte, und die ebenso wenig Hilfreiches zu Tage förderten. Ich konnte verstehen, dass mein Vater keinen Sinn darin sah, weitere Verhöre dieser Art durchzuführen. Man konnte annehmen, dass man von diesen Frauen belogen wurde und dass womöglich viele darunter waren, die in Wahrheit an Hahnenkämpfen teilgenommen hatten. Ich wählte mir einen erhöhten Platz, von dem aus ich die notwendige Übersicht hatte, um aussagekräftige Skizzen anfertigen zu können, musste allerdings noch einmal herunterklettern und meinem Vater helfen, einen der Tische in die Mitte des Raumes zu rücken und von Spielkarten, Aschenbechern und leeren Gläsern zu befreien. Wir stellten zwei Lampen an die beiden Längsseiten des Tisches und mein Vater zog den von der Decke hängenden Leuchter ein Stück tiefer, was für bessere Lichtverhältnisse auf der Glasplatte sorgte. Sobald ich an meinen Platz zurückgekehrt war, ließ mein Vater die erste Frau vortreten, ihren Namen sagen und sich ausgestreckt auf die Tischplatte legen. Die Untersuchung dauerte drei bis vier Minuten. Außer eines Muttermals war auf ihrem Körper nichts Auffälliges zu finden. Die nächste Frau besaß extrem weiße Haut, wodurch eine Wunde oder Narbe sofort ins Auge gesprungen wäre. Mein Vater ließ sie, nachdem er sie abgetastet hatte, sich in Bauchlage drehen, untersuchte ihren Rücken, ihr Gesäß und die Rückseite ihrer Beine, musste sie aber genauso ergebnislos entlassen wie ihre Vorgängerin. Obwohl die Untersuchung der dritten Frau doppelt so lang dauerte wie jene der vorangehenden, fiel das Ergebnis ebenso unbefriedigend aus. Ich fühlte die wachsende Frustration meines Vaters. Seine Anweisungen wurden schärfer, seine Berührungen gröber. Plötzlich, es musste sich um die Untersuchung der sechsten oder siebenten Frau handeln, bemerkte ich einen dunklen Fleck auf deren Haut unterhalb des Schlüsselbeines. Ich stellte fest, dass sich der Fleck langsam vergrößerte, allmählich seine kreisrunde Form verlor und zu einem Tropfen wurde, der Sekunden später in Richtung ihrer Achsel davon lief. Ich war nicht sicher, ob mein Vater den Vorgang bemerkt hatte, denn er war gerade mit der Außenseite ihres Oberschenkels beschäftig, und ich wollte ihm schon ein Zeichen geben, hielt mich aber zurück und hob stattdessen den Weg des Tropfens in meiner Skizze markant hervor, um später eine Analyse zu erleichtern. Die Notwendigkeit dafür erübrigte sich allerdings schon im nächsten Moment, denn als ich aufblickte, war bereits mehr Blut aus der Wunde gequollen und eine weitere Wunde hatte sich auf der linken Seite ihres Bauches geöffnet. Mein Vater richtete sich auf und wirkte erleichtert. Er hatte es nicht eilig, die Blutung zu stoppen. Diese Art von Verletzung konnte nur von einem messerscharfen Gegenstand wie einer Kralle herrühren. Ich bemerkte, wie sehr ich mich gesorgt hatte, dass die von meinem Vater geleitete Operation im Nichts verlaufen würde. Nun lag der Beweis für die Richtigkeit seiner Vorgangsweise auf dem Tisch. Die Kämpfe fanden statt. Es war nur eine Frage der Zeit, bis man auch die Hahnenkostüme finden würde. Ich war stolz, nicht heimgelaufen zu sein und den Einsatz bis zu seiner entscheidenden Phase mitgemacht zu haben. Auch sollten meine Skizzen eine gute Grundlage für mich bilden, um in zehn oder fünfzehn Jahren Nachfolger meines Vaters in diesem Job werden zu können.