Der Größte in der Umkleide

Harald saß an der Bar und trank Scotch und Bier. Er war gerade groß genug, dass er seine Arme auf den Tresen legen konnte. Aber seine Körpergröße brachte auch Vorteile mit sich. In dem spitzen Winkel konnte er zumindest seine Visage im Barspiegel nicht erkennen. Ein enormer Vorteil, wenn man sich in Ruhe einen ansaufen wollte. Außerdem brauchte es nicht soviel und er war so gut wie blank. Pleite. Ausgebrannt. Er kippte den Scotch und trank einen Schluck Bier hinterher.

Die Bartür schwang auf und in das gleißende Licht der Außenwelt schnitzte sich eine Silhouette, die nichts als Ärger versprach. Noch ein Vorteil seiner Kleinwüchsigkeit, der Krach mit den Weibern blieb ihm größtenteils erspart. Die Tür schwang hinter ihr zu. Das Augenlicht kehrte zurück. Sie trug das kleine Schwarze in Blau. Um die Hüften hing ihr ein schmaler Riemen Gürtel, der ihre Figur zur vollen Geltung brachte. Sie sah aus wie die auferstandene Irene Staub, der Sex triefte ihr aus allen Poren. Man konnte spüren wie den Süffeln die Augen feucht wurden, und die Luft vibrierte, als gingen hunderte Reißverschlüsse gleichzeitig in die Knie.

In der hinteren Ecke der Kneipe hatten sogar die jungen Burschen ihr Dartspiel unterbrochen. Für einen Moment war es still. Sie gab sich ganz blasiert. Harald ließ die Show sausen und versuchte sich wieder auf sein Bier zu konzentrieren. Solche Weiber suchten und fanden alles Mögliche, aber niemals ihn. Im Rücken knallten ihre Absätze über den versiffiten Boden. Mein Gott!, selbst das Knallen steckte voller Spott.
Eine menge Hocker waren frei, aber sie setzte sich direkt neben ihn.

„Was trinkst du?“ fragte sie.
„Scotch und Bier.“
Sie bestellte zwei Scotch. Der Barmann machte und sie tranken.
„Noch einen?“ fragte sie.
„Warum nicht.“

Die nächste Runde kam. Sie tranken. Aus der Nähe betrachtet war sie älter, als er gedacht hatte. Sie hatte die Krähenfüße um ihre Augen mit dickem marineblauen Lidschatten kaschiert. Aber trotzdem blieb sie eine Wucht. Rougebepuderte Wangen. Blutrotverschmierte Lippen. Was wollte sie nur von ihm?

„Lust dir 100 Piepen zu verdienen?“ fragte sie.
„100 Piepen klingen nie verkehrt.“
„Kann sein dass es dir nicht gefällt.“
„Wäre nicht das erste Mal.“
Sie lächelte.
„Wie wär´s mit ´nem Vorschuss?“ fragte er.
„Im Wagen“, sagte sie.

Sie zahlte. Er kletterte vom Barhocker, nahm sie bei der Hand und führte sie zum Ausgang. Alle Augen gafften ihn an.

„Hey, Mann“, tuschelte es aus der Dartspielerecke, „die haut mit dem Zwerg ab.“

Er war der Mann der Stunde. Des Jahrtausends.

Harald hielt ihr die Tür auf, sie ging durch, und er warf den Jungs ein Augenzwinkern zu. Es war ganz einfach. Es war wie auf dem Schulhof mit dem tollsten Mädel der Stadt; man war der Größte.
Sie fuhr einen SLK, älteres Modell, so einen Friseusenflitzer in mintgrün. Hinterm Steuer schlüpfte sie aus den Hochhackigen und warf sie auf seine Seite in den Fußraum. Sie fingerte einen Fünfziger aus ihrem BH. Harald nahm ihn. Er war ganz speckig. Sie lachte, drehte am Zündschlüssel und gab dem Gaspedal den blanken Fuß. Es ging ein Stück die Hauptstraße entlang, bis sie abbog, dann nochmal, und wieder. Harald merkte sich nicht, wo es lang ging. Er hatte eh nie einen guten Orientierungssinn gehabt. Schließlich hielt sie vor einem Mehrfamilienhaus mit einer Menge Rasen davor.

„Vergiss meine Schuhe nicht, Tom!“
„Tom?“
„Ja, ab jetzt heißt du Tom.“

Harald alias Tom bückte sich nach den Schuhen und trug sie ihr hinterher. Barfuß hüpfte sie quer über das Gras. Wie ein Blumenkind aus längst vergessener Zeit. Aber Öko kam zurück und zwar im großen Stil, wenn man sich allein die Preise im Reformhaus ansah. Ihre Wohnung lag im vierten Stock.

„Wohin mit den Schuhen?“ fragte er.
Sie riss ihm die Schuhe aus der Hand und schleuderte sie in die Ecke.
„Hab ich irgendwas nicht mitgekriegt?“
„Du hast mit meiner besten Freundin gefickt, Tom!“
„Was?“
„Du hättest jede ficken können, aber du wolltest mir weh tun und deshalb hast du sie gefickt!“
„Wovon zur Hölle redest du da?“
„Jetzt versuch dich bloß nicht rauszureden, Tom! Sie hat mir alles erzählt. Du hast sie gefickt, weil du das brauchst – zur Bestätigung! Weil du gar nicht in der Lage bist eine Frau zu lieben! Weil du gar nicht Manns genug bist eine echte Beziehung zu führen!“

Das Blumenmädchen war gegangen. Die Moderne wollte Blut sehen. Nur nichts auf sich sitzen lassen. Ihr Brustkorb bebte. Ihre Augen schossen Blitze.

„Okay“, sagte er und ließ sich auf die Couch fallen. „Ich glaub, für die Nummer brauch ich einen Drink!“
Sie ging in die Küche und kam mit einem Glas und einer Flasche Scotch wieder. Eine teure Marke. Er schüttete sich ein und trank.
„Ja, trink, trink nur, das ist ja alles was du kannst. Das, und mit anderen Frauen rummachen, weil du sonst nichts kannst, weil du kein Mann bist, ein armer Wicht, weil du klein bist!“
„Willst du den Abend wirklich so verbringen?“

Sie setzte sich ihm gegenüber. Sie schlug die Beine übereinander und zog den Rock hoch. Bis sie ihre Knie, dann die Schenkel freigelegt hatte. Für ihr Alter hatte sie tolle Beine. Und kein Seidenstrumpf auf der Haut. Nichts als nacktes Fleisch.
„Gefällt dir das? Ich seh´s dir doch an, du willst es, weil du´s immer willst, weil du gar nicht anders kannst. Du bist erbärmlich, Tom!“ Ihr Oberkörper kam nach vorne, wie ein Kämpfer im Angriffsmodus. Ihr Arm schnellte hoch, ihre Finger – „So klein mit Hut!“

Harald goss sich nach.

Sie beugte sich nach vorne über. Auf dem Couchtisch stand das Telefon. Während sie wählte, genoss er die Aussicht. Oh ja, am liebsten wollte er ihr diesen blauen Fetzen Kleid vom Körper reißen. Nein, sie sollte es anbehalten und er würde es ihr hochschieben und sie im Stehen nehmen. Mit Hingabe. Wenn er doch bloß größer wäre. Verflucht!, er merkte, wie ihm die Hose spannte.
„Cleo? Cleo ich bin´s, Marie … ja, er ist hier…“ Sie drückte den Knopf für den Lautsprecher. „So, jetzt.“
„Na, Tom, erinnerst du dich noch an mich? An die Nacht, als du mich abgefüllt hast?“
„Ja, wir haben gefickt.“
„Du warst der lausigste Fick meines Lebens!“
„Tom konnte noch nie ficken“, fügte Marie hinzu. „Er bespringt dich bloß wie ein Trampolin.“
„Und Muschi lecken will er auch nicht.“
„Weil er´s nicht kann!“
„Und er rasiert sich nie das Arschloch, will aber selbst dort geleckt werden!“

Die beiden kamen richtig in Fahrt. Harald saß da und nippte am Scotch. Er überlegte, was Tom wohl gerade trieb? Bestimmt ließ er sich irgendwo die haarigen Eier lutschen. Der Typ im Sportunterricht, der nicht als erstes in die Mannschaft gewählt wird, sondern selbst wählt.

„Kann ein Mann nicht einfach von der Arbeit kommen und in Ruhe ein Glas zum Feierabend trinken?“
„Arbeit?“ blaffte Marie. „Du hast doch noch nie in deinem Leben gearbeitet. Nicht mal ´n Teller abgewaschen hast du…“
„Oder auch nur einmal die Bettdecke aufgeschüttelt!“
Dieser Tom musste ein Mordskerl sein. Und sie wollten Tom. Also verdiente er eine anständige Vertretung.
„Ladys, ich hab genug Saft für euch beide!“
„Pisse im Glas!“ dröhnte es durch die Freisprechanlage.
„Wenn ´n ordentliches Stück Fleisch aufm Teller liegt, und ihr mir in der Wanne den Rücken schrubbt, kriegt ihr es die ganze Nacht.“
„Hör ihn dir an, Cleo…“
„Der große Macker, dabei ist er ganz klein…“
„Hat dir doch gefallen, Cleo, warst doch ganz geil darauf, dass ich dich Marie nenne –“
„Jetzt reicht´s!“ Marie sprang auf und stand breitbeinig vor ihm, dass ihr der blaue Stoff zwischen den Beinen spannte. „Du Bastard!“ Sie zog ihren Gürtel aus. Das Kleid ging auseinander und verschluckte eine Menge Figur. Sie holte aus und schlug nach ihm. Tom alias Harald kriegte gerade noch die Arme hoch.
„Verflucht, Baby, was machst du denn da?“
„Was ich schon längst hätte machen sollen – dir mal Manieren beibringen!“

Wieder fauchte das Leder durch die Luft. Wieder legte er schützend die Arme um seinen Kopf. Der Riemen traf ihn an Brust und Bauch. Harald rutschte von der Couch. „SCHLAG ZU! SCHLAG ZU!“ krächzte es aus dem Lautsprecher. Sie holte wieder und wieder aus. Er wusste nicht, was er machen sollte. Das Weib war völlig außer Kontrolle. Er drehte sich weg und lief zur Wohnungstür. Den Gürtel immer im Rücken. Auf dem Rücken…

Er schaffte es bis ins Treppenhaus. Sie stand lachend im Rahmen. Dann rauschte die Tür ins Schloss.
Er war schon halb die Treppe runter, als ihm einfiel, dass sie ihm noch einen Fuffie schuldete. Er klopfte gegen die Tür. Es dauerte, dann ging sie einen spaltbreit auf. Sie hatte die Kette vorgelegt. „Was willst du?“ fragte sie mit dem schnurlosen Telefonhörer am Ohr.

„Du schuldest mir noch Geld.“
„Geld? Jetzt will er auch noch Geld! Herrgott, womit hab ich das nur verdient?“
Die Striemen pulsierten auf Haralds ganzem Körper.
Die Tür knallte in den Rahmen.
Er trat nochmal dagegen, ehe er es sein ließ.

Auf der Straße hielt er ein Taxi an und fuhr zurück in die Bar. Ein Paar der Jungs und alle Süffel waren noch da und sahen ihn mit großen Augen an. Er stolzierte zu seinem Barhocker, kletterte hinauf und knallte den Schein auf den Tresen. „Whisky, pur!“

Der Barkeeper machte ihm den Drink.
„Und“, fragte er, „wie war´s?“
Harald grinste und nippte am Scotch. Er war der Held der Umkleide.

Frank Trummel

1984 in Wuppertal geboren. Fachabitur. Zivildienstleistender. Supermarktaushilfe. Küchenjunge. Kurierfahrer. Ausbildung zum Augenoptiker. Arbeitsloser. Halbtagsoptiker. Wird fortgesetzt…

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