Schäfers Symphonie
Schäfer hat ziemliche Schmerzen in der Leiste, als er die Treppen zu seiner Wohnung hochsteigt. Im Lager war schon wieder die elektrische Ameise kaputt und so musste er die Stahlplatten zusammen mit dem Zigeuner per Hand verladen. Eine furchtbare Buckelei war das gewesen, aber dem Zigeuner hatte es kaum was ausgemacht. Er hatte sogar die ganze Zeit so ein dämliches Lied gepfiffen. Die ganze Schicht über und selbst in den Pausen, sogar wenn er ne Fluppe im Mund hatte. Schäfer hatte ihn mehrmals aufgefordert damit aufzuhören, aber es dauerte keine Minute, dann fing der Zigeuner wieder an, erst leise, doch dann wurden seine Pfiffe immer durchdringender, bis aus ihnen nur ein weiterer Schmerz wurde, der tief in Schäfers Knochen hämmerte und der noch immer nicht verhallt ist, jetzt wo er fast zu hause ist, sich in seinen Sessel setzen kann und eine Symphonie von Glasunow auflegen. Darauf freut sich Schäfer schon den ganzen Tag. Der Sessel und Glasunow und dazu vielleicht einen Halbtrockenen, ein Glas wenigstens.
„Bin zu Hause.“, ruft Schäfer durch die Wohnung, während er sich aus seinen schweren Stahlkappenstiefeln schält und dann auf seinen durchlöcherten Socken durch den Flur schlürft. Seine Frau antwortet nicht. Schäfer findet sie im Wohnzimmer, vertieft in ein Einrichtungsmagazin. Sie schaut nicht mal auf, als er hinter ihr steht und an ihrem Ohr knabbert und mit seiner rauen Zunge über ihr linkes Läppchen fährt, in dem noch die Ohrringlöcher zu sehen sind, die zwar inzwischen zugewachsen sind, aber doch noch sichtbar. Sie erinnern Schäfer an etwas, aber er kommt einfach nicht drauf.
„Du stinkst ja erbärmlich nach Schweiß.“, sagt seine Frau, „Geh dich doch bitte erst mal duschen.“
„Ja, ich geh gleich.“, erwidert Schäfer, „Ich muss mich nur für einen Moment in meinen Sessel setzen. Hab mich verhoben im Lager. Die ganzen Platten mussten wir schleppen. Glaub, lange halt ich das nicht mehr aus.“
Seine Frau legt ihr Einrichtungsmagazin zur Seite und schaut Schäfer vorwurfsvoll an.
„Du weißt, das wir das Geld brauchen.“
Natürlich weiß Schäfer das. Sie lässt keine Gelegenheit aus ihn daran zu erinnern. Aber warum sie es brauchen, das hat er noch immer nicht begriffen. Früher, als sie noch studierten, da kamen sie mit viel weniger aus und Schäfer hat nicht das Gefühl, dass es ihnen damals schlechter ging. Im Gegenteil. Er ertappt sich oft dabei, dass er sich nach diese Zeiten zurücksehnt. Als alles noch frisch war und sein Rücken in Ordnung und sie sich nie Sorgen wegen dem Geld gemacht haben, gerade weil sie nie welches hatten.
Schäfer lässt von seiner Frau ab und wendet sich seinem Sessel zu. Doch der Sessel ist nicht mehr da, sein geliebter grauer Sessel, dieses Erbstück, das mal seinem Großvater gehört hat, das er bekommen hat, als der ins Heim musste, weg, verschwunden.
„Wo ist er?“, fragt Schäfer nur.
„Wer?“
Seine Frau tut so, als wüsste sie nicht wovon er spricht. Da wär jetzt eigentlich n‘ ziemlich guter Zeitpunkt um wütend zu werden, denkt Schäfer. Aber er ist so geschafft, dass keine Emotion seine Lethargie durchbrechen kann.
„Na, mein Sessel natürlich.“, sagt er.
„Ach, den. Hab ich weggetan. Der hat nicht mehr zu den Gardinen gepasst“
„Nicht mehr zu den Gardinen gepasst.“ Schäfer wiederholt ihre Äußerung wie ein Schulkind, das einen Satz voller Fremdwörter verstehen will. Nicht mehr zu den Gardinen.
„Wir kaufen morgen einen neuen.“, sagt seine Frau.
Doch Schäfer schüttelt langsam den Kopf. Genau damit hat das alles ja angefangen. Als erstes hatten sie den Teppich ausgetauscht. Das hatte Schäfer ja noch eingesehen. Der war wirklich etwas oll und hatte ihm noch nie gefallen. Doch alles, was danach passierte, war ihm völlig unverständlich. Seine Frau hatte dann auch gleich eine neue Sitzgarnitur besorgt, weil die alte sich farblich mit dem neuen Teppich beißen würde, wie sie meinte. Wenige Tage später hatte sie ihn nach der Maloche noch die Wand umstreichen lassen, wegen der Harmonie und dem F?ngshu? oder was auch immer. Als nächstes waren dann die Gardinen drangewesen, die sich nun nicht mehr mit der neuen Wandfarbe vertrugen. Und jetzt also sein treuer Sessel.
„Wo hast du ihn hingeschafft?“, fragt Schäfer müde.
Seine Frau seufzt: „Steht im Hof. Morgen kommt der Sperrmüll.“
Wieder nickt Schäfer. Als er sich an der Tür noch mal umdreht, kommt es ihm vor, als wäre das gar nicht seine Wohnung, so sehr ähnelt sie dem Cover des Einrichtungsmagazin, das da auf dem Wohnzimmertisch liegt. Alles passt jetzt perfekt zusammen, denkt Schäfer, nur ich pass da nicht mehr rein. Dann zieht er die Tür hinter sich zu.
Der Sessel steht tatsächlich im Hof. Schäfer muss daran denken, dass er diesen Sessel zuerst nicht besonders mochte und es bestenfalls ein Möbelstück war wie jedes andere auch, und dass sich das eigentlich erst geändert hat, als sein Großvater gestorben ist. Sein Großvater und noch so manch anderes. Seitdem ist dieser Sessel Schäfers heiliger Rückzugspunkt vor der Welt.
Mit aller Kraft versucht Schäfer ihn anzuheben, um ihn wieder nach oben zu tragen, aber sofort durchpulst seine Wirbelsäule wieder dieser Schmerz, und so lässt er sich stattdessen in die Polster sinken. Es ist ein milder Abend und aus dem Küchenfenster dieser seltsamen Witwe von gegenüber dringt der Geruch von gekochtem Kohl. Schäfer zieht ihn sich tief in die Nüstern und beobachtet dabei eine Schar Krähen, die in Erbrochenem herumpicken. Es ist nicht gerade Glasunow, denkt Schäfer, aber eine Symphonie ist es doch.