Träume

Im Traum ging ich durch einen Wald. Ich ging über ein Feld, ich schwamm durch einen See, ich ging über einen Hügel, ich ging durch eine Stadt, durch einen Saal, durch die Dämmerung und über einen Gehsteig. Ich ging durch die knisternde Luft, durch ein Treppenhaus, durch Gestrüpp und über ein Gebirge ging ich. Ich wollte schon Gefallen daran finden, immer nur zu gehen, da glitt ich aus und im nächsten Moment lag ich wach im zerwühlten Bettzeug. Auf dem Wecker war es halb fünf Uhr. Rasch zog ich ein Hemd über und verließ das Haus. Seltsam, wie hell es doch war, und was machten all diese Menschen schon so früh auf der Straße? Hatten auch sie wild geträumt? Oder sollte es etwa schon Nachmittag sein? Dieser laue und weiche Luftstrom um mich hatte etwas Verräterisches an sich, und dann war es mir, als würden statt Sonnenstrahlen Scheinwerfer durch die Baumkronen blitzen. Die Menschen auf den Gehwegen lächelten und blinzelten einander im Vorbeigehen immerfort zu, so als teilten sie irgendein Geheimnis miteinander. Eine dickliche Frau mit einer neongelben Spange im Haar kam mir entgegen. Ich hielt sie am Arm fest, nahm ihr Gesicht in beide Hände und betrachtete es aufmerksam. War die Frau vielleicht prominent? „Sind Sie eine Berühmtheit?“, brüllte ich, „Kennt man Sie von irgendwoher?“ Im selben Moment stürmte von der anderen Straßenseite ein Mann auf mich los und packte mich grob beim Kragen; offenbar wollte er der Frau zu Hilfe eilen. Als er aber mein Gesicht sah, erstarrte er. Ich sah, wie die Faust, mit der er schon nach mir ausgeholt hatte, wieder erschlaffte und wie er dann meine Hand ergriff und sie eifrig schüttelte. War ich vielleicht selbst prominent? Ärgerlich, dass mir das weitere Verhalten des Mannes darüber keinen Aufschluss gab. Mit zufriedenem Gesicht und ohne ein Wort ging er fröhlich pfeifend davon. Wenn ich nicht berühmt war, so überlegte ich, dann war ich offenbar einer von jenen Menschen, von denen man sagt, dass sie polarisieren. Man konnte nicht anders, als entweder entzückt oder angewidert auf mich zu reagieren. Allmählich wurde mir die Angelegenheit zu dumm und ich beschloss, zurück ins Haus zu gehen, mich wieder ins Bett zu legen und alles soeben Erlebte bloß für einen Traum zu halten. Vor dem Hauseingang trat mir ein kränklich aussehender junger Mann in den Weg und fragte nach einer Zigarette. Mein Anblick schien ihm wenig Eindruck zu machen und in seinen Augen war nichts von Entzücken oder Abscheu zu erkennen. Mir war sofort klar, dass die Frage nach der Zigarette bloß ein Vorwand war, um mich zusammenschlagen und ausrauben zu können.

Achtung: In diesem Moment kommt ein Radfahrer über den Gehweg gerauscht und gibt der Handlung eine unerwartete Wendung, indem er mich mit voller Wucht über den Haufen fährt. Ich werde gegen die Häuserwand geschleudert und stürze zu Boden. Als ich mich aufrichte, sehe ich, wie von allen Seiten Passanten herbeieilen, um dem Radfahrer, der ebenfalls gestürzt ist, aufzuhelfen. Er schreit vor Schmerz, als sie ihn aufheben; anscheinend hat er sich den Arm gebrochen. Ich dagegen bin unverletzt, nur mein Hemd ist zerrissen. Vor dem Hauseingang steht noch immer der kränklich aussehende junge Mann und zündet sich eine Zigarette an. Kühl und aufmerksam registriert er, was vor sich geht. Er beobachtet, wie sich eine Menschenmenge um uns schart, er bemerkt, dass das Fahrrad sich in einem Gebüsch verfangen hat, dass die Speichen im Sonnenlicht glitzern und dass der Himmel mäßig bewölkt ist an diesem Tag. Ruhig hört er sich an, wie der Radfahrer mich beschuldigt, ihn absichtlich vom Rad gestoßen zu haben, und dass allein sein Fahrradhelm ihn vor schlimmeren Verletzungen bewahrt habe. Schweigend und unbeteiligt beobachte ich den Radfahrer und die Menschen um mich herum. Offenbar verwechsle ich mich mit dem rauchenden Mann vor dem Hauseingang. Jemand verpasst dem Radfahrer von hinten einen Stoß, so dass dieser in meine Richtung taumelt. Der Radfahrer hat eine solche Wut auf mich, dass er irgendwie zu glauben scheint, ich hätte ihn gestoßen, und dann stürmt er auch schon auf mich los, doch kaum dass er mich erreicht hat, kaum dass er zuschlagen kann, verliert er das Gleichgewicht und stürzt schon wieder zu Boden. Angefeuert von dem Gebrüll der Menge trete ich noch zwei, drei Mal gegen seinen Fahrradhelm. Ich will schon wieder alles bloß für einen Traum halten, da kommen Polizisten herbei, schlagen mich nieder und führen mich ab.

Robin Krick

Robin Krick, geboren 1980, hat es seither zu keiner lesenswerten Biografie gebracht. Versucht neuerdings, sich mit erfundenen Geschichten interessant zu machen.

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