Wasser und Wein
Sie saß am Küchentisch, den Rücken zum offenen Fenster gedreht. Ihr Kopf ruhte auf dem linken Unterarm, den rechten Arm hatte sie quer über die glatte Holzplatte gelegt. Neben ihrer rechten Hand stand ein halbvolles Glas Rotwein. Sie konnte das Ticken der Uhr hören. Die Luft stand still.
Es war ein warmer Sommerabend, doch die Sonne erreichte ihr Apartment nicht, dafür lag es zu stark im Schatten der anderen Gebäude. Dennoch war es heiß in den zwei Zimmern. Die Hitze machte sie müde und drückte ihm auf die Stimmung. Sie wusste, die Sorgen ließen ihn nicht los. Wenn sie ihn fragte, log er manchmal und sagte, es wäre nichts. Oder er beteuerte, es liege nicht an ihr und strich ihr beiläufig übers Haar.
Ihre Stirn berührte die Platte. Mit der linken Hand befühlte sie das Holz, strich über ein paar Kerben und abgeschabte Stellen, die mit den Jahren entstanden waren.
Ein kalter Windstoß. Sie zuckte zusammen und ihre rechte Hand streifte das Weinglas. Es fiel so zur Seite, dass der Rand des Glases auf der Tischkante zum Liegen kam und der Wein auf den Fußboden tropfte.
Für ein paar Augenblicke blieb sie sitzen und sah den fallenden Tropfen zu, bis sie aufstand, das Glas wieder aufrichtete und die Flüssigkeit vom Boden aufwischte. Sie erhob sich, schüttete den verbliebenen Wein in die Spüle und hielt das Glas gegen das Licht. Es hatte am Rand einen kleinen Sprung.
Sie überlegte, ob der Riss vielleicht zu kleben wäre, doch dafür wirkte er zu schmal. Vielleicht wäre es eine Lösung, den Rand etwas abzuschleifen, dachte sie und fuhr mit zwei Fingern über den Riss.
Plötzlich – sie wusste nicht, was sie falsch gemacht hatte – breitete sich der Riss aus und zog sich bis zum Stil des Glases. Als sie erneut das Glas etwas hin- und her bewegte, um zu sehen, warum der Sprung sich so weit ausgebreitet hatte, zerbrach es in ihren Händen. Ihre Finger färbten sich rot.
Sie starrte die Scherben in ihren Händen an, die allmählich von den letzten Tropfen Rotwein und ihrem Blut benetzt wurden, bis sie Schritte im Flur hörte.
Überstürzt drehte sie den Hahn auf, ließ Wasser über ihre Hände laufen und wickelte die Scherben in ein Stück Papier.
Die Küchentür schwang auf.
„Was machst du denn hier solange?“, fragte er.
Sie verbarg die Hand hinter ihrem Rücken.
„Nichts.“