Briefe aus der Irrenanstalt
(erster Freigang)
Samstag nachmittag in der geschlossenen Anstalt. Wispern. Raus, also willst Du, lispelt eine körperlose Stimme, aber weißt Du denn, was Dich dort erwartet. Freiheit. Die Schwester steht mit der täglichen Dosis vor mir. Die Dosis.
Der Autor Abrupt beendet ein Punkt den Gedanken. Schwester Maria, der alte Fettbolzen, ist die gute Seele von zuhause. Zuhause, so müssen, nein, möchten wir zu dem alten Gemäuer sagen. Besucher wissen das oft nicht, vor allem wenn sie zum erstenmal kommen. ‚Die Anstalt‘ sagen sie.
‚Bleib lieber zuhause‘, meint Schwester Maria. Oft setzt sie sich ins Schwesternzimmer und raucht. Dann können auch wir unsere Freizeit verbringen, wo wir wollen. Zuhause, versteht sich. Im Erdgeschoß befindet sich ein kleines Cafe. Cafe Plemplem, nennen es die Besucher. Dort wird auch geraucht. Wer will, kann im Cafe Geld verdienen. Mir wurde einmal gesagt, es könnte Probleme geben, wenn jemand merkt, daß ich Medikamente an Außenstehende, so nennen wir die Besucher, verscherble. Und es sei auch nicht gut für die Gesundheit. ‚Ohne die Dosis seid ihr hilflos,‘ sagt Schwester Maria. Frank, Besucher nennen uns ‚Insassen‘, erzählte eines Tages beim Mühle spielen, er habe sich in Schwester Maria verliebt. Aber er glaubt, Schwester Maria ignoriert ihn.
Dann nahm er das Spielbrett und zog es mir mit voller Wucht über den Scheitel. Armer Frank. Seither liegt er nur mehr in seinem Bett, in einem neuen Zimmer, das man nur von außen öffnen kann, und hängt am Tropf.
Ich hatte eine kleine Platzwunde am Kopf, ‚und dort, wo die Kante des Spielbretts sie traf, ist wahrscheinlich ein Haarriß, lustiges Wortspiel. Haarriß zwischen den Haaren. Aber das bedeutet nichts. Sie bekommen ein paar Medikamente zusätzlich. Bevor sie hier rauskommen wird alles wieder gut, hoho.‘ Hoho, das polternde Lachen eines Arztes, der aussieht, wie man sich einen verrückten Wissenschafter vorstellt. Rauskommen. Du wirst noch sehen, wo Du Dir Dein Lachen hinstecken kannst.
‚Der Tropf ist eine Infusion,‘ sagt Schwester Maria. Das hilft. Frank kann sich nicht mehr bewegen, die Betreuer haben ihn arg zugerichtet.
Manchmal darf ich Frank besuchen. Er gibt mir zu verstehen, daß es ihm leid tut. Mit den Augen. Er ist nämlich zu schwach, um zu sprechen. Ich verstehe, was er mit den Augen sagt. Ich erzähle Frank, was für eine tolle Frau Schwester Maria sei. Er kann mich hören, sagt Schwester Maria. Ich weiß, daß Frank versteht, was ich sage. Zum Beispiel habe ich ihm erzählt, daß Schwester Maria gut blasen kann. Abends dürfen sich drei Auserwählte von Schwester Maria einen blasen lassen. Alles erstunken und erlogen, aber was weiß Frank, der arme Teufel. Wenn ich ihm das erzähle, drohen seine Augen herauszuspringen. Er winselt auch manchmal. Leise, aber hörbar. Nachts, ich glaube, seine Dosis ist dann geringer, höre ich Frank schreien. Maaariaaaaaaaa. Man hört die Schuhe der laufenden Betreuer am Gang. Frank ist in Schwierigkeiten. Wenn Frank dann so aufgeregt ist, versuche ich ihn zu beruhigen, indem ich seine Füße massiere. Früher legte er immer Wert auf sauber geschnittene Fingernägel. Schwester Maria ist eine gute Frau. Wenn ich lange genug bettle, darf ich Franks Fingernägel schneiden. Ich nehme die Schere in die Hand und zeige Frank die Stelle, an der mich das Spielbrett traf. Haarriß, denke ich. Dann nehme ich langsam seine Hand und bearbeite behutsam jeden Finger. Alles muß sauber sein.
‚Unzurechnungsfähig‘ war die Quintessenz des Plädoyers meines Rechtsanwaltes. Seit fünf Milliarden Jahren gibt es Menschen und nur die wenigsten schaffen es, sich immer unter Kontrolle zu halten. Überall Krieg, Gewalt, Mord, Totschlag, Verstohlenheit. ‚Wenn also dieser Mensch auf der Anklagebank zurechnungsfähig ist, wieso hat er es nicht dabei belassen, seinen Zimmergenossen einen Faustschlag zu versetzen?‘ sagte mein Rechtsanwalt. Ja, was habe ich mir eigentlich dabei gedacht, seine Augen herauszuquetschen. Ich glaube, es war ‚wenn schon, denn schon‘.
Oft komme ich nicht mehr in den Genuß, meinen besten Freund im Internat umzubringen. Also. Wenn schon, dann richtig. Zuerst schlug ich ihn mit dem Fußballpokal bewußtlos. Mein erster Pokal, ich war vierzehn. Das war drei Jahre vorher.
Der Sachverständige sagte, daß Martin bewußtlos war, nachdem ich ihm den Schädel mit meinem Lieblingspokal eingedroschen hatte. Ich dachte, er sei tot, als die Gedärme unter seiner Bauchdecke hervorquillten. Es war ein Geschenk von Martin: Ein echtes Butterfly Messer. Das war vor fünfzehn Jahren. Mein Gott, war ich neugierig.
Zu meiner Verteidigung: Er hat angefangen. Warum hat er meine Zigaretten beim Fenster hinausgeworfen. Ich schrie ihn an. Zigaretten waren wertvoll in einem Gebäude, das fern jeder Zivilisation Pubertierende zu ehrenwerten Mitgliedern der Gesellschaft heranzuerziehen versucht. Er *lispelte* irgendwas davon, daß es ihm leid täte und daß er bei seinem großen Bruder neue besorgen könnte. Er war ja der Liebling seiner Familie, bekam jedes Jahr zu Weihnachten, Ostern und zu was weiß ich welchen Gelegenheiten Geschenke. Von seinen Eltern. Er beteuerte, er sei mein bester Freund. Es ist niemand anderer da, den ich umbringen könnte, sagte ich. ‚Es dauert nicht lange, Martin, schließlich bist Du mein Freund‘, sagt ich und holte weit aus.
Jetzt also sitze ich hier, auf der Anklagebank, und mein Rechtsanwalt stellt meine Zurechnungsfähigkeit in Frage. Weit habe ich es gebracht. Letztendlich war ich dankbar, daß ich in die ‚Anstalt‘ kam. Es war schön, nach Hause zu kommen. Mir wurde in Aussicht gestellt, mich freier bewegen zu können, wenn ich mich an die Vorschriften hielte. Früher oder später komme ich hier raus. Und heute ist ein guter Tag.
Sie werden Dich kriegen, meint die Stimme. Ach was. Schwester Maria gab mir zu verstehen, daß ein Betreuer mitgehen werde. Als Rückversicherung, sozusagen. Falls ich beim einkaufen Probleme habe. Oder beim busfahren. Alles muß gelernt werden. Du schaffst es nicht. Am Fenster wieder die grinsenden Fratzen. Jemand steht hinter mir. Es fühlt sich an, als würde mir jemand von hinten eine Wollmütze aufsetzen. Peter lacht. Er hat unsere Medikamente ausgetauscht. Meine Zähne begannen zu knirschen, ich wackelte auf weichen Knien bei Schwester Maria vorbei. Sie hat mich nicht bemerkt. Wieso heute, wieso jetzt. In zehn Minuten muß ich mich angezogen haben. Auf diesen Tag warte ich seit fünfzehn Jahren.
Dieser Scheißirre. Peter wußte nicht, was er tat. Aber er tat es regelmäßig. Und heute hat er mir den ersten Nachmittag, den ich draussen verbringen könnte, versaut. Langsam setze ich mich aufs Bett. Die Schuhe, verdammt, wo sind die Schuhe. Sie liegen unter dem Bett. Oh, wie ich diese Stimme liebe. Langsam nach vor beugen und… ich liege am Boden, kann mich nicht bewegen, kann nichts sagen. Ich liege da, sehe die Uhr, die über der Tür hängt. 15.30 … 15.35 … um 15.45 muß ich im Cafe sein, angezogen, die Tür ist zu, niemand kann mir helfen. 15.37, die Türschnalle bewegt sich langsamer als der Sekundenzeiger.
Bitte nicht, nein, bitte jetzt nicht Schwester Maria. Langsam öffnet sich die Tür. Wenn mich Schwester Maria jetzt so da liegen sieht kann ich mir den Freigang in den Arsch betonieren. Die Tür öffnet sich…
Vorhang. Verwirrung im Publikum. Nervöses Gemurmel. Komische Geschichte, denke ich und räuspere mich. Martin sitzt neben mir. Es ist schon halb zehn, laut Programmheft dauert die Vorstellung noch eine Viertelstunde. Das ist auch gut so. Wenn ich nämlich den Bus um 22 Uhr nicht erwische, muß ich noch eine Stunde warten. Das Licht im Theater ist zu gedämpft, als daß es möglich wäre, das Kleingedruckte zu lesen. Langsam wird es wieder hell und ich frage mich, wo das Licht herkommt.