Das Haus

Es ist Winter, das Haus hustet. Jedes Mal das gleiche: ein Sommerhaus, viel zu leicht gekleidet. Mit der Kälte nisten sich Erkältungskrankheiten ein, vom Boden bis zum Keller und vom Keller bis zum Boden, und dann kommt das Haus bis zum Frühling nicht mehr aus dem Husten raus.

Der Eigentümer, ein alter Seebär mit Ankertätowierungen auf Brust und Stirn, schert sich um nichts. Von Bettruhe oder Wärmeisolierung keine Rede. Seebären sind hart gegen sich selbst, gegen andere, ohne Mitgefühl, ohne Interesse für alles jenseits der Themen Dirnen und „Schnappes“. Und der Seebär hat gut Lachen: die meiste Zeit des Jahres, vor allem während des Winters, fährt er zur See. Das Schniefen und Husten seines Hauses aber verfolgt ihn bis nach Neuguinea und Neufundland, es beherrscht seine Träume, sobald er auch nur sein einziges Auge zumacht, jenes Auge, das dem Seebären noch geblieben ist seit der Sache damals mit der Renovierung, mit dem Versuch der Renovierung … Kaum schnarcht er ins Traumland hinüber, richtet sich sein Haus vor ihm, vor seinem inneren Auge auf, zitternd, bibbernd, dienernd wie ein Diener, sich immerfort für die Störung entschuldigend. Aber gerade diese Unterwürfigkeit hasst der alte Seebär wie die Pest. Nichts verachtet er mehr als Häuser ohne Arsch in der Hose. Und so ist es kein Wunder, dass er nicht das erste Mal an Trennung, an Scheidung denkt, an Makler, Provisionen, an regelrechten Hausverkauf …

Das Haus indes hustet, und es hüpft auf der Stelle, um nur etwas Wärme in seine dünnen Wände, in seine gefrorenen Wasser- und Heizungsrohre zu bekommen. Aber mit jedem Husten, mit jedem Hüpfer, kracht es im Gebälk – nicht nur der Seebär, auch das Haus ist nicht das jüngste – mit jedem Niesen bröckelt der Putz, ziehen sich Risse vom Keller bis zum Boden und vom Boden bis zum Keller. Und der Auswurf, der den Hustenanfällen folgt wie der Diener seinem Herrn, hat auch schon besser ausgesehen …

Eines Tages, der Seebär liegt mit seinem Schiff vor Neuseeland, fällt ihm das Auge zu und sein Haus erscheint wie immer, wie seine selige Schwiegermutter, pünktlich wie die Nachrichten im Fernseher. Aber heute sieht es ganz besonders schäbig aus. Es geht vor seinem Herrn in die Knie, wobei es die eine und andere Dachpfanne verliert, es entschuldigt sich und sein Elend, es flennt und jammert, so dass der Seebär keine Ruhe findet. Und als er das Haus vor seinem inneren Auge mit seiner inneren Hand wie eine lästige Fliege verjagen will, da sieht er, wie es mit einem Ächzen, mit einem Stöhnen in sich zusammenfällt und in einer Staubwolke wie hinter einem Vorhang verschwindet. Dem Seebären soll es recht sein. Er sagt sich: Schlaf brauche ich, kein Haus! Und mit seiner inneren Hand schlägt er in die seines inneren Immobilenmaklers ein, der ihn, so sieht es aus, von einer schweren Last befreit …

Als der alte Seebär im Frühjahr nach Hause kommt, muss er sehen, dass just an jener Stelle, wo sein Haus die ganzen Jahre über wie ein treuer Hund auf ihn gewartet hatte, eine Lücke klafft. Der Keller steht unter Wasser, und auf dem Wasser schwimmen schnatternde Entchen, kleine gelbe Plastikentchen, um genau zu sein. Als sie den Seebären sehen, lachen sie sich kaputt, und die wenigen Überlebenden lachen ihn aus und zeigen mit den Fingern auf ihn. Und dann schnattern sie, dass sein Haus jetzt auf eigenen Beinen stehe und dass es ihm gut gehe, besser jedenfalls als unter der Fuchtel eines alten Seebären, dem alles egal sei außer Dirnen und „Schnappes“. Und dann erheben sie sich voller Stolz, voller Würde und Elan in die Lüfte, und sie schnattern ihm zum Abschied nach, dass es ihnen nicht im Traum einfallen würde, ihm zu verraten, wo sein Haus sein Glück gemacht habe.

Der Seebär indes legt seine Stirn in Falten, so dass sich die Ankertätowierung in eine Meerjungfrau verwandelt, und zwar in eine junge Meerfrau mit mächtigem Vorbau, ein sicheres Zeichen dafür, dass es hinter der Stirn des Seebären arbeitet. Und je größer die Wellen, die Stirnfalten, desto größer die geistigen Anstrengungen. Wo zieht es einen Seebären hin, wenn er von großer Fahrt kommt? Natürlich ins Bordell, natürlich in die Kneipe, letzten Endes jedoch nach Hause, und wenn er kein Zuhause hat oder nicht mehr hat, ins Seemannsheim. Allein die Erinnerung an schnarchende Zimmergenossen und ihr stinkendes Zubehör: Atem, Socken, Unterarme etc. versperren ihm wie Wachsoldaten den Weg dorthin. Und dann spürt der Alte ein Gefühl aus fernen Tagen, er spürt Sehnsucht zuerst, Seebärensehnsucht, ein Zucken, ein Jucken des Herzens, plötzlich einen unwiderstehlichen Sog, wie ein Wasserwirbel, ohne Entrinnen, ohne Erinnern. Vor seinem inneren Auge tauchen die Wörter HEIM und ZUHAUSE auf, in großen barocken Lettern, und diesen Worten folgen weitere wie ein Entchen dem anderen: Gemütlichkeit, Geborgenheit, Birnen, Bohnen und Speck und Mama sind ihre Namen. Und es dauert nicht lange, da sehen wir eine Träne sich die windgegerbte Wange unseres Seebären in den Tod hinunterstürzen. Und dann noch eine und noch eine …

Und schon sehen wir den Seebären auf der Suche nach seinem Haus. Wir folgen ihm durch das Straßenlabyrinth der Stadt, das sich wie eine Schlange windet, wir sehen ihn Passanten fragen, wir sehen ihn in allen Himmelsrichtungen suchen, Flugblätter verteilend, Zettelchen mit der Überschrift „Entlaufen“, mit einer Skizze und Beschreibung seines Heimes, seines Hauses. Und als er die Suche schon aufgeben will, als ihm die Kräfte schwinden wie einer Laufradmaus, da weist ihm ein Verkehrsschild – bezeichnenderweise ein Stoppschild! –  den Weg nach Norden. Dein Haus ist hier vorbeigekommen, sagt das Schild und sonnt sich im Sonnenschein der Aufmerksamkeit, allerdings in einem mehr als dürftigen Zustand und in mehr als fragwürdiger Begleitung. Kein anderer Hausherr, soviel scheint sicher, soviel zur Beruhigung, zur Beruhigung einer jäh auffauchenden Eifersucht, die wie ein Tiger in seinem Käfig in der Brust des Seebären auf- und abläuft. Kein neuer Hausherr, nein, viel schlimmer, herrenloses Gesindel, Herumtreiber, Bummler und Gammler hätten sich seiner bemächtigt und auf Abwege gebracht.

Jetzt gilt es, keine Zeit zu verlieren. Es wird Polizei eingeschaltet, ebenso die Medien der Massen, die sich wie Aasgeier auf ein gefundenes Fressen stürzen. Schlagzeilen ziehen an uns vorüber, Abendfüllendes über heruntergekommene Häuser fluten alle Haushalte, und dann – auf dem Höhepunkt der Kampagne – sehen wir den Seebären vor laufender Kamera weinen, ein zerknittertes Foto seines Hauses in der Hand, ein Foto aus freundlicheren Tagen, Arm in Arm mit dem Seebären, im Garten, beim Grillen … Und unter Tränen und Geschluchze bittet der Seebär sein Haus, nach Hause, das heißt, zu ihm zurück zu kommen. Und all die Denunzianten da draußen vor dem Fernseher, all die Verräter bittet er um Mitgefühl und Hinweise …

Doch der Seebär kann nicht einfach nur so dasitzen und nichts tun, allein auf die Arbeit von Polizei, Medien und Denunzianten vertrauend, er kann nicht einfach nur da sein, und schon gar nicht in einem Seemannsheim voll unsäglicher Gestalten und Gerüche. Und so macht er sich von neuem auf, auf zu neuen Ufern, an denen er sein Haus wie einen verlorenen Sohn zu finden hofft …

 



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Rüdiger Saß

geboren 1966 | Wohnhaft in Hamburg | Soziologe | zuletzt erschienen: Neues von der Heimatfront (Roman). Bench Press Publishing, 2008. Siehe auch www.myspace.com/leereimer - Noch zu haben: Nachtstühle - Erzählungen und Prosa

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