Verschlagwortet: Titelstory

my name is murderkid (Foto: H.Malorny)

Leonardo

Leonardo bewegte sich nicht, er stand da und war vom Relief der alten Steinmauer kaum zu unterscheiden. Warten war sein Job. Er blieb nicht lange in einer Stadt. Niemand kannte ihn, weil niemand genau sagen konnte wer er war. Seine Hände rochen permanent nach Desinfektionsmittel, sie waren feingliedrig und weiß und lang. Der Rest seines Körpers glich einer Schlange, er fiel nirgends auf, weil nichts auffälliges an ihm war.

Duo Abgesang

skelettierte finger hauen in die tasten musik zur apokalypse: dissonante regungen des prinzips zerstörung

Und ewig stinkt der Schritt

Regen strähnt, und ewig stinkt der Schritt, Regen strähnt und stöhnt, von links oben nach rechts unten, es tropft aus einem aufgewühlten Wolkendickicht heraus, und die Reifen unzähliger Autos rauschen über nasses Pflaster hinweg, und die Bäume, kahl wie ein Glatzkopf, wiegen sich zur Melodie eines rauen Winterwindes, und ewig stinkt der Schritt. Ein Tropfenspektakel, dazu das unablässige Reifenrauschen und ewig stinkt der Schritt.

Ohne Titel.

Die blaue Gaskartusche hatte er im Laden montiert, unter Aufsicht der Verkäuferin. Da er zusätzlich eine Rolle Klebeband kaufte, ein sogenanntes Gaffa-Band, ging sie davon aus, hier rüste sich ein junger Mann für den Besuch eines Musikfestivals. Das erklärte sie sowohl gegenüber der Polizei wie auch der Mutter, die zwei Wochen später den Laden aufsuchte.

Bundesarchiv, Bild 146-1985-021-09 / CC-BY-SA

Die Flucht

Marta war sechs Jahre alt, als sie ihre Heimat verlassen mussten, sie, ihre Mutter und ihre sechs Geschwister. Vater war nicht da, er konnte nicht bei ihnen sein, Vater war Soldat. Marta erinnerte sich an alles, nach vielen Jahren, sie erinnerte sich genau.

unter packungen prostagutt sitzen

Während einer nicht zu vermeidenden Bahnfahrt von X nach Y – diesen zweifelsfrei nicht schönsten unter unseren deutschen Städten – bemerkte ich, eingequengelt zwischen einer Fensterplatz-Mutti mit Schoßkind und der gläsernen Schiebetür eines ICE 411 (2. Baureihe), wie die im Großen und Ganzen uninspirierten Passagiere jedes Mal, wenn sie zur Weiterverfügung einer Körperüberflüssigkeit auf den Gang traten und der eng und eckig umstellten Scheinweite des Sanitärraumes zustrebten, einen Blick der Besonderheit in meine Richtung warfen.

Von Bautzen nach Buchenwald

Als die Zellentür aufgeschlossen wurde, hörte Thälmann seine Todesglocken. Ihm stand das Ende seines Lebensweges vor Augen, eine Wiese, auf die seine Asche gestreut würde. Er dachte an die Worte Eugen Levinés: „Wir Kommunisten sind alle Tote auf Urlaub.“ Trotzdem fragte er den Schlüsselschergen „Wohin?“ Die Antwort lautete: „Schnauze halten! Zum Verhör.“ Thälmann wusste, dass das gelogen war. Beinahe zehn Jahre wurde er nicht mehr zur Vernehmung geschubst.

Die Lehre

Wie oft hatte er in der Vergangenheit herumgebrüllt, geschrien und gedroht, wegen nichts, wegen fast nichts! Und wie oft saßen seine Schüler, seine Schülerinnen da wie verschrecktes Wild, das sich ohne Schutz, ohne Schirm einer Naturgewalt, einem Irren ausgesetzt sah! Und wie groß die Scham des Lehrers, der seinen Frust, seine Ohnmacht, seine Niederlagen an Unschuldigen, an Unbeteiligten ausließ! Damit solle von nun an Schluss sein, Lehrer Nurgut will reinen Tisch machen.