Ein Tag wie blaue Seidenschleier
Laue Lüfte strichen wie lange blaue Seidenschleier über Stadt und Land hinweg, die Sonne sah keinen Grund, sich zu verstecken. Ein kleines, buckliges Haus dampfte in der Mittagshitze, und das Leben hielt den Atem an, suchte Schatten und Kühlung. Nur Örnt, ein kleiner brauner Dackel, machte sich im Garten hinterm Haus zu schaffen. Er hatte Witterung aufgenommen …
Dackel stehen schon seit langem auf der Liste vom Aussterben bedrohter Tierarten, da sich die Mode, dass alternde Damen ihre Einsamkeit mit Dackeln teilen, geändert hat. Frauen, die heutzutage vom Verfall überfallen werden, frönen anderen Vorlieben: Sie lassen sich die schlaffe Haut straffen, um nicht länger alt auszusehen, oder sie halten sich Haustiere, die nicht die Langeweile und Spießigkeit von Dackeln verkörpern, also Schlangen, Skorpione oder ganzkörperbehaarte Riesenspinnen …
Örnt lebte auf einem der vielen Höhepunkte des Dackelzeitalters, er lebte in Tüfteln, einem kleinen miefigen Städtchen, das lediglich eine löchrige Landstraße mit der Welt verband, und es geschah im Jahre des Heils 1952, da er im Garten hinterm Haus Witterung aufgenommen hatte …
Tüfteln hätte genauso gut Eintönigkeit oder Leere heißen können, da letztere die mittelalterliche Stadt seit jeher fest im Griff, im Würgegriff hatten. Das Stadtwappen zierte und ziert noch immer ein aufgedunsener, gähnender Philister, ein rotweinwangiger Dickkopf zwischen einer gemästeten Gans und einer fetten, feisten Sau.
„Örnt!“, rief Praline Flachmann immer wieder, „Örnt!“, hallte es durchs Haus, in den Garten, über die Straße … Die alte Dame mit dem Dreitagebart bereute es seit langem, sich diesen Dackel angeschafft zu haben, da ihrem Exemplar die rühmliche Eigenschaft hündischer Gehorsamkeit fehlte. Die Töle der alten Zornhorn von nebenan triefte vor Ergebenheit, sie tanzte ganz nach ihrer Pfeife, sobald sie sie auch nur zur Hand nahm. Nur sie, die Flachmann, hatte ihren Hund nicht im Griff, sie litt darunter, denn sie wusste, dass sich die Nachbarn, dass sich die ganze Stadt deswegen das Maul zerriss, dass ganz Tüfteln und Umgebung darüber lachte.
Örnt indes hatte Besseres zu tun, als sich von seinem Frauchen mästen und frisieren zu lassen, er grub, er scharrte im Garten hinterm Haus, er hatte Witterung aufgenommen. Er war schon zur Gänze in der Grube verschwunden, als er plötzlich mit einem Knochen zwischen den Kiefern wieder auftauchte, mit dem Oberschenkelknochen eines Menschen, der länger als Örnt selbst war, ein Schmuckstück, das jedem anatomischen Institut zur Ehre gereicht hätte. Mit seiner Trophäe machte sich der Dackel schnurstracks auf den Weg. Er trottete mitten über die in der Hitze schwitzenden Straßen zum Marktplatz und über den Marktplatz zum Rathaus. Dort wartete er, bis die alte, eichene Eingangstür geöffnet wurde. Er schlüpfte in die Eingangshalle, hüpfte die Treppe hinauf und lief in den Sitzungssaal des Stadtparlaments. Die im Saal versammelten Abgeordneten, die Schriftführer, Saaldiener und Zuschauer staunten wie Katholiken während einer Marienerscheinung, als Örnt den Knochen vor dem Thron des Bürgermeisters ausspuckte und – Männchen machend – auf Belohnung wartete. Dieses Ereignis – zumal in aller Öffentlichkeit – konnte nicht mit einem Witz oder Fußtritt für den Dackel aus der Welt geschafft werden, wie es Bürgermeister Vorngern versuchte, zumal neben dem Lokalreporter des „Tüftelner Tageblatts“ auch Beinah Jemand, seines Zeichens Hauptwachtmeister und Stadtverordneter zugegen war. Der Knochen warf Fragen auf, hoch offizielle Fragen, die – so forderten es Gesetz, Neugier und Sitte – unbedingt beantwortet werden mussten: Wem gehörte der Knochen, und wo hatte der Dackel ihn her? Beinah Jemand wusste Rat. Er war nicht nur Polizist und Politiker, sondern auch Besitzer eines teutschen Schäferhundes. Also lobte er den Dackel und fragte ihn, wo er den Knochen gefunden habe. Der Sitzungssaal leerte sich in Hundeseile, denn Örnt führte die von der Neugier Gewürgten zur Tür hinaus auf den Marktplatz und von dort mitten über die in der Hitze flimmernden Straßen in den Hausgarten seines Frauchens. Die Überraschung der Leute kannte keine Grenzen, da es im Garten vor Knochen nur so wimmelte. Keiner der Anwesenden konnte sich erinnern, dass die Beete und Rabatten jemals als Friedhof gedient hätten. Und so musste, weil sich Beinah Jemand in seiner Eigenschaft als Polizist sofort überfordert sah, die Kollegen Kommissare aus Blinddarm, Tüftelns großer Nachbarstadt und Rivalin, alarmiert werden.
Das Vergessen ist groß, und größer das Vergessen, wenn man einen Krieg, einen Weltkrieg verliert! Obwohl Zusammenbruch und Kapitulation erst sieben Jahre zurücklagen, rief sich niemand ins Gedächtnis, was während des Krieges in dem Garten hinterm Haus vor aller Augen geschah, niemand konnte oder wollte zurückblicken, niemand außer Kriechfried Aberhaber, der einzige bekennende Kommunist in Tüfteln. Er gab zu Protokoll, das Haus der Praline Flachmann sei seinerzeit von Bürgermeister Vorngern bewohnt worden, und es sei diesem eine Freude gewesen, seinen Garten mit den Körpern von Kriegsgefangenen und Zwangsarbeitern zu düngen. Gernvorn Vorngern war der Führer von Tüfteln, er war Herr über Leben und Tod. Und es beliebte ihm – zumal in einer Zeit, als ein Menschenleben nicht mehr wert war als eine Patrone, als Autoabgase oder ein Krümelchen Zyklon B – hin und wieder einen jener armen Seelen zu erschießen, die seine Beete und Rabatten pflegen mussten. Das sei bis zuletzt so gewesen, erklärte Kriechfried Aberhaber vor Gericht. Gernvorn Vorngern habe noch gemordet, als die feindlichen Truppen schon ans Stadttor pochten. Trotz aller Ehrenerklärungen für den Angeklagten, der auf sein Entnazifizierungsverfahren verwies, aus dem er als „unbelastet“ hervorging, und der sich zu seiner Verteidigung gebetsmühlenartig auf „Befehlsnotstand“ berief („Was hätte ich denn tun sollen? Schließlich war es Krieg!“), trotz aller Sympathiebekundungen aus dem Zuschauerraum und in der Presse, und trotz aller Winkelzüge seines Verteidigers, der nicht müde wurde, die Glaubwürdigkeit Kriechfried Aberhabers, des Hauptbelastungszeugen, dieses „nichtswürdigen Bolschewisten und unverbesserlichen Schutzhäftlings“, mit Schmutz zu bewerfen – musste Richter Wurmweg seinen Partei- und Gesinnungsgenossen wegen fahrlässigen Totschlags in hundertneunzehn Fällen zu dreizehn Monaten Zuchthaus verurteilen, ohne Bewährung, so leid ihm das auch tue.
Mit seiner Aussage hatte Kriechfried Aberhaber eine rote Linie übertreten, oder besser: eine braune Linie, so schmierig, braun und stinkend wie eine Kackwurst. Ein ganzes Volk, eine verschworene Gemeinschaft stand wie ein Mann, wie ein Soldat gegen ihn, gegen den „Verräter“, den „Nestbeschmutzer“ und „Parasiten, der beim nächsten Mal bestimmt nicht um die Gaskammer, um den Genickschuss herumkommt.“
Derlei Schmähungen und Drohungen zierten die Wände seiner Wohnung, als das „Kommunistenschwein“ nach der Urteilsverkündung nach Hause kam, in seine nach allen Regeln der Sturmabteilungskunst verwüstete Wohnung. Nur das Kündigungsschreiben seines Ausbeuters lag unversehrt wie eine Jungfrau auf den Trümmern. Fortan wurde er wie Luft behandelt, er wurde geschnitten, wie und wo es ging, und nur dem Kolonialwarenhändler Cohn, der nach dem Krieg mit einer tätowierten Nummer auf dem Arm zur peinlichen Verwunderung aller nach Tüfteln zurückgekehrt war, ist es zu verdanken, dass Kriechfried Aberhaber, sein einziger Kunde, nicht verhungerte und, um nicht zu erfrieren, ab und zu ein warmes Wort bekam. Doch es dauerte nicht lang, bis Aberhaber von einem Tag auf den andern von der Erde verschluckt wurde. Tüftelns Buschtrommeln zufolge wurde ihm zu Ehren eine Nacht der langen Messer veranstaltet. Und selbst Örnt, Praline Flachmanns Dackel, bekam das gesunde Volksempfinden am eigenen Leib zu spüren. Eines Morgens fand ihn sein Frauchen vor der Tür, alle Viere von sich gestreckt, sein Erbrochenes umgab wie ein Heiligenschein sein Haupt. Einzig Gernvorn Vorngern kam mit einem blauen Auge aus dieser „dummen Geschichte“ heraus. Nach einem halben Jahr wegen guter Führung aus dem Zuchthaus entlassen, hielt er triumphalen Einzug in Tüfteln. Er wurde umgehend in seiner Eigenschaft als Bürgermeister bestätigt, obwohl das dem Wortlaut der Gesetze widersprach. Doch was kümmerte die Abgeordneten des Tüftelner Stadtparlaments, durch die Bank Demokraten wider Willen, der Wortlaut der Gesetze, wenn es ihnen nicht in den Kram passte? Und so legte der geschäftsführende Bürgermeister, Amtsleiter Gehtnichtmehr, Vorngerns Adjutant aus besseren, aus tausendjährigen Tagen, seinem Führer in einer feierlichen Sitzung des Parlaments die Amtskette um den Hals. Am nächsten Tag, an einem Tag wie blaue Seidenschleier verherrlichte das „Tüftelner Tageblatt“ dieses Ereignis unter der Überschrift „Ruhe, Frieden und Ordnung wiederhergestellt“.