Im Gefäßzentrum

Praxis: Decke (Flut) (Foto: AW)Ich sehe weiß, nichts als weiß, nachdem sich die automatisch öffnende Glastür automatisch hinter ihm geschlossen hat, mir ist, als ob mich das Haus verschluckt und nicht wieder ausspucken will, mir ist, als ob mich die Tür nicht wieder freigeben würde. Und ich sehe nichts als weiß: die Wände, die Decken, die Luft, die Atmosphäre, die Schwestern hinterm Empfangstresen, überall. Apropos Empfangstresen, diese Bollwerke vor dem Allerheiligsten, kafkaeske Türhüter der Postmoderne! Eine Mode, die sich durchgesetzt zu haben scheint: in Arztpraxen, in Kanzleien, Agenturen, wohin man sieht, nichts als Empfangstresen und dahinter ewig junges, freundlich lächelndes Weibwerk, verführerisch freundlich lächelnd, mit langwallendem gesunden Haaren und blendend weißen Zahnreihen. In all dem Weiß heben sich nur die gelben Fußböden heraus, pflegeleichter gelber Kunststoff, ab und zu ein pflichtgemäßer, sprich unvermeidlicher Blumentopf mit Grünzeug, um das sich niemand so richtig kümmert, niemand im Weit und Breit des Gefäßzentrums, der sich für Pflanzen zuständig fühlt, Krüppelgewächs, gezeichnet von einem lebenslangen Kampf gegen das Verdursten. Lampen an Decken und Wänden, klinisch weißes Licht verstrahlend, so weiß und kalt wie die Arktis. Intimste Informationen wehen vom Empfang durch die Gänge, mal wie laue Lüftchen, mal wie Sturmböen. Wenn den Eindruck der Keimfreiheit und des im Kern Gesunden dieser weißen, kalten Atmosphäre nicht die Kunden stören würden, die, sobald sich die automatische Eingangstür automatisch hinter ihnen geschlossen hat, automatisch Patienten heißen und sich auch so fühlen und verhalten! Und so trügt die strahlend weiße Atmosphäre, sie trübt sich ein, sie nimmt die faulige, stinkende Farbe des Siechtums und des Todes an. Und selbst die gerahmte, glasverpackte Kunst an den Wänden bekommt bei näherem Hinsehen einen kranken Klang wie all die geflüsterten Gespräche auf den Wartestühlen unter ihnen. Der Privatstolzent lässt auf sich warten. Vielleicht widmet sich der Doktor anstatt meiner Ängste, Schmerzen und Sorgen viel lieber seiner liebevoll geschmierten Frühstücksstulle oder einem Ferngespräch mit einer Telefonsexagentin. Oder er zieht dringendere Fälle vor: siechere, ältere, hoffnungslosere … Wer weiß, wer mag das wissen? Mein Puls steigt … und steigt … bis zum Anschlag. Ich bin an der Reihe und nicht diese stinkende alte Sau, die lange nach mir gekommen ist! Warum gibt es Termine, wenn sie nicht eingehalten werden, wenn man sie platzen lässt? Wenn ich mich weiter so aufpumpe, aufrege wegen nichts, wegen der Langeweile, dann steigt mein Blutdruck, dann grüßen Schmerzen im Bereich des Herzens, dann bin ich hier an der richtigen Stelle. Also rege ich mich auf! Über den Zug zum Beispiel. Ich sitze im Zug, nicht in irgendeinem, sondern in einem Luftzug. Darüber rege ich mich auf, oh ja, darüber und über all die geträllerten Belanglosigkeiten, Krankengeschichten, die vom Empfangstresen wie ein kalter unverwüstlicher Luftzug herüberwehen … und auch die Kranken regen mich auf, all die Alten, die sich kreuz und quer die Flure entlangkrüppeln … Schönes Wochenende!

Praxis: Decke (Flut) (Foto: AW)Endlich geht es voran, und zwar in die erste Etage, genauer: in den Flur der ersten Etage. Da sind sie ja auch wieder, die Hydrokulturen grüßen wie alte Freunde, Krüppelpalmen, denen man ansieht, dass sie Erde vermissen, dass sie alles geben würden, selbst ihr Leben für einen einzigen Augenblick in satter nasser Muttererde. Das Warten zieht sich kaugummigleich in die Länge … der Privatstolzent fragte und fragte und auf meine Antworten folgte ein bedeutungsschweres „Hm“, ein beängstigendes „Hm“. Auch im ersten Stock ziert seltsame Fotokunst die Wände, Diagramme, Zeitungsausschnitte mit Fotos, vielleicht rühmen sie die Erfolge des Gefäßzentrums, vielleicht seine Misserfolge. Ich jedenfalls will nichts davon wissen, ich lasse die Wände und ihre Kunst außer Betracht, ich vertiefe mich stattdessen in die Langeweile meiner Warteraumgefühle vor dem Untersuchungszimmer. Gelbe Türen, weiße Wände, wie gehabt. Sterile, tariflich festgesetzte Hilfsbereitschaft erwartet mich, Fließbanduntersuchungen, im Minutentakt, maximale Auslastung von Menschen und Maschinen. Es summt und brummt das Gefäßzentrum, nein, kleiner Scherz, es summt und brummt im Gefäßzentrum. Weiße Wände, gelbe, schallschluckende Türen …

Endlich ist es soweit: Mein Herz grüßt auf dem Bildschirm eines Ultraschallgerätes, der Mercedes unter derlei Geräten, wie ich vermute. Bin schwer beeindruckt, gut, dass ich liege, sonst hätte ich mich setzen müssen. Mein bestes Stück ein pumpender Fleischklops, fauchend, schmatzend wie ein Abflussrohr. Dann zurück auf den Wartefllur, auf einen der vielen Wartestühle an den Wänden. Wohin das Auge auch blickt, es sieht nur Kranke, meist Alte, langsam, schleichend und schweigend … mit sich selbst beschäftigt, in sich hineinhorchend, bangend und hoffend … Ein Herzpatient – allem Anschein nach ein Neuling – reißt die Seiten seiner Zeitung herum anstatt sie umzublättern. Na, da steckt noch Kraft dahinter, die Kraft der zwei Herzen, und die Ungeduld des Wartenden, des Gelangweilten, der – ich sehe es ihm an – viel lieber Geld verdienen möchte als krank zu sein, herzkrank und auf die Hilfe anderer angewiesen. Und dabei wartet doch sein Alltag auf ihn, warten all die Geschäfte, die Hektik, die Termine, die keinen Aufschub, keine Verzögerung dulden. Und dennoch weiß er, wenn er es sich eingestehen würde, dass er sich mit Riesenschritten jenem Tag nähert, an dem er nicht mehr aufwacht. Wie widerlich, wie erbärmlich diese Hilflosigkeit, dieses Fallen, dieser jähe Sturz aus dem gemachten Bett der Gesundheit! Und dahinter, hinter der sommerlichen, unbekümmerten Idylle des Wohlbefindens – in der Hölle der Krankheit – streckt der Teufel seine lachende Fratze hervor, ungeniert, höhnend und spottend. Vorwürfe, Selbstvorwürfe fallen wie Konfetti von der weißen keimfreien Decke, wie Schneeregen auf eine ins Rutschen geratene Welt. Kein Zutritt!

Praxis: Decke (Flut) (Foto: AW)Dann heißt es Fahrradfahren für die Diagnose, Belastungs-EKG, jede Menge Stöpsel auf der Brust, radeln voll verkabelt, am Puls des Patienten, Fahrradfahren bis Palermo, bis zum Anschlag, ohne Palermo auch nur einen Zentimeter näher zu kommen. Schwester Ringelburg und Schwester Hirngart fichtt das nicht an. Sie kennen das schon. Und auch Schwester Lalldi zeigt sich unbeeindruckt. Während ich um mein Leben strample, drehen sich ihre Gespräche um das Fernsehprogramm von gestern, heute und morgen …

Und dann darf wieder gewartet werden. Die Zeit zwischen den Untersuchungen dehnt sich wie eine Ewigkeit in Einzelhaft – ohne Licht, ohne Zerstreuung, ganz auf sich gestellt, allein mit sich selbst, mit einem Fremden, den man ein Leben lang geflohen ist, dem man, so gut es ging, aus dem Weg gegangen ist …

Dann das Happyend, die Tür, die automatische Eingangstür, die mich freigibt, mich in ein neues Leben entlässt, freilich in eines von kürzerer Dauer als das, was ein Jüngerer als ich noch erwarten darf, aber wie neugeboren, ein Leben ohne als Patient von Beruf. Der Privatstolzent hatte zuletzt statt des ewigen „Hm“ Worte parat. Er schien fast ärgerlich, gute Nachrichten zu verbreiten, das passiert ihm wohl nicht alle Tage, er wähnte vielleicht sogar einen Simulanten in mir, einen eingebildeten Kranken, der sich unter die schlimmen Fälle, unter die Unrettbaren geschmuggelt hatte … mit all seiner Angst, mit all seinen eingebildeten Schmerzen und überflüssigen Sorgen.

 



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Rüdiger Saß:
Das nervöse Zeitalter: oder Literatur zum Kilopreis
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Rüdiger Saß

geboren 1966 | Wohnhaft in Hamburg | Soziologe | zuletzt erschienen: Neues von der Heimatfront (Roman). Bench Press Publishing, 2008. Siehe auch www.myspace.com/leereimer - Noch zu haben: Nachtstühle - Erzählungen und Prosa

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